Erinnerungen an heute
Hans-Helmut Decker-Voigts Kolumne erscheint alle zwei Wochen in der Uelzer Allgemeinen Zeitung. Hier an dieser Stelle wird es ein- oder zweimal im Monat eine neue Veröffentlichung geben.
Wahrsager Onkel Hans-Heinrich

Onkel Hans-Heinrich ist zu Besuch. Er wird Onkel "H-hoch-2" oder "Onkel H-Quadrat" genannt. Weil er Naturwissenschaftler ist. Unweigerlich wurde er jetzt von der Erinnerung einer wahrlich heißen Selbsterfahrung heimgesucht. Unweigerlich wahrscheinlich deshalb, weil gerade eben Pfingsten war und der Text der Epistel in der Kirche aufhörte mit dem altmodischen Wort "Weissagen" ("...will ich in jenen Tagen meinen Geist ausgießen und sie sollen weissagen"). Denn Onkel H-Quadrat hat -Naturwissenschaft hin oder her- einmal richtig geweissagt. Weissagen müssen. Was auch immer mit Wahrsagen zu tun hat.

Damals war er Kriegsgefangener und die Mitgefangenen unterhielten sich durch allerlei wie eine Musikgruppe, eine Laienschauspielgruppe u.a.Da war Unterhaltung wahrlich noch Unterhalt für die Seele und das Gegenteil von Konsum. Da Musiker und Schauspieler in einem Kriegsgefangenenlager auf die Dauer auch großes Publikum ersehnen, wurde ein großes Fest geplant und man erinnerte sich Onkel H-hoch-2. "Du hast doch mit Sternen zu tun, nicht?"

So trat die oberste Selbstverwaltung der Gefangenen an ihn heran und er nickte. Er studierte Astronomie und Astrophysik. "Astrologe wirst du, nicht?" Der damalige Student und gefangene Gefreite versuchte, dem Barackenchef und künftigen Intendanten des geplanten Jahrmarkts den Unterschied zwischen Astronomie und Astrologie zu erklären.

Beides hätte zwar mit Sternen zu tun, er aber anders als die Astrologie. Für das Fest sei das egal, hieß es. Man brauchte ihn für die Sterne. Er gab nach und wurde auf dem Kriegsgefangenen-Jahrmarkt in eine kleine zurechtgezimmerte Bretterbude gestellt, über der ein Plakat dazu einlud, sich die Sterne erklären zu lassen.

 Onkel Hans-Heinrich tat das auch, zunächst ganz fachlich: Sternbilder zeichnete er auf, erzählte spannende Daten dazu und lud ein zu einer Nachtbeobachtung. Doch die Leute wollten mehr. Was stehe in den Sternen? Wegen Entlassung? Und Frau zuhause- und Geld später- Gesundheit? Zwangsweise, er war ja gefangen-fing Onkel Hans-Heinrich an, ein bißchen zu weissagen. Jawohl, er sagte voraus. Je nach dem Geburtsdatum. Solange bis er merkte, dass vor seiner Bretterbude inzwischen eine kleine Schlange stand und gebannt wartete... Doch da war es zu spät.

Er sagte dem älteren Tischlermeister voraus, dass seine Tischlerei wohl noch stehe (er wusste, dass der Betrieb auf der Schwäbischen Alb stand, wo Onkel keine Angriffe vermutete). Er war für seinen ängstlichen und einfersuchtsgeplagten Pritschennachbarn Albert sicher, dass deren Ursula ihm treu bleiben würde (schließlich war die Eifersucht Alberts lächerlich. Keiner kriegte soviel Post von seinem Mädchen!)

Laut weissagte Onkel H-Quadrat tapfer weiter, wie gesagt: zwangsweise. Dabei bewegte er sich im Stil der unteren Horoskop-Niveaustufe, von Kaufmann Beckmanns Kundenillustrierten zuhause in Celle. Jedoch sprach er mit der Sprache, die er von seinem Vater -ausgerechnet Pastor- gelernt hatte: Nachdrücklich, klar artikuliert, eben die Sprache einer Autorität.

Laut weissagte er also das Blaue vom Himmel herunter in seine umlagerte Bretterbude. Innerlich und nach dem ganzen Zauber bat er den Gott seiner Väter und seinen Vater insgeheim um Verzeihung, um Verständnis, um Abbitte, was immer.

Er versuchte sein Schuldgefühl zu dämpfen, indem er beschloss, nie wieder so was zu machen. Auch nicht im Spaß. Und Petrus und den anderen in der Pfingstgemeinde der Epistel das Weissagen zu überlassen.

(01.Juni 2004)