Der Blick in Cheryls Augen
„Ihre Brille lag vorne an der Rezeption," sagte die stets freundlich-hilfsbereite Stimme von Frau Meyer in mein Dunkel hinein. „Ich lege sie hier auf Ihre Sachen." Mein Dunkel war das dahindämmernde Dösen auf der Massage- Praxis-Liege von Herrn Meyer, auf der ich mich ab und an mit seiner Hilfe um mich kümmere. Vorne an der Rezeption hatte ich mit Frau Meyer und meinem Terminkalender die nächsten kostbaren Daten gesucht und dabei meine Brille abgelegt. Was ich Frau Meyer noch nie gesagt habe (anderen auch nicht), mochte ich ihr jetzt erst recht nicht beichten: Daß ich mit meiner Brille kaum sehe, ohne viel besser. Deshalb setze ich sie, wenn's ernst wird, unauffällig ab. Diese Brille trug und trage ich, um älter, um schlauer, um ernster, um als irgendetwas zu wirken, was ich ohne Brille nicht bin. Der Begriff „Modebrille" umreißt, diese Aufgaben einer solchen Fensterglas-Brille wohl. Ich dankte Frau Meyer murmelnd und sie wird das Murmeln mit meinem Tagesdösen verbunden haben. Und dann fiel mir in meinem Dunkel Cheryl ein, wie ich sie vor wenigen Wochen zum ersten Mal auf dem Kongress erschaute! Da stand sie zwar mit ihrem ganzen Körper vor mir, diese kleine, energiegeladene Frau aus Amerika, die ebenso viele akademische Titel wie wichtige Funktionen trug und doch sah ich nur ihre Augen: Grasgrün ist gar kein Ausdruck. An Smaragde im Märchen dachte ich, als ich in Cheryls Augen versank. Und an das phosphoreszierende Giftgrün, mit dem sich ihrerzeit Heidelinde Weiss im „Spukschloss im Spessart" kleidete. Alles zusammen sind nur Versuche, das Grün von Cheryls Augen zu umschreiben. Und nun das zweite Wunder: Cheryl hatte zu alledem noch ein Kleid an, das - nein, nicht einfach ähnlich grün war: Es war das gleiche wunderschöne, giftig strahlende, lockende Grün! Abends sah ich Cheryl wieder beim Empfang durch die örtliche Regierung. Aber was war neben Cheryl schon ein Regierungspräsident oder Oberbürgermeister neben Cheryl verblassten sie, verschwanden fast. Ich selbst sah überhaupt nur noch Cheryl, nein, auch die nicht, sondern auch nur wieder ihre Augen, denn diesmal waren sie gelb, quittengelb, sonnengelb. Alles Gelb dieser Erde sammelte sich in Cheryls Augen. Wenn Blicke zittern könnten, muss meiner gezittert haben: Cheryls Kleid hatte dasselbe unsagbare göttlich-himmlische Gelb, welches das Gold der Königinnen und Könige symbolisiert. Beim Dessert raffte ich all meinen Mut zusammen und fragte sie. Wie sie das sso - und wie hinreißend diese verschiedenen Farben denn nacheinander und überhaupt. Cheryl ist eine souveräne Frau, die mich als Mann einer hoch im Erdball-Norden gelegenen kleinen Provinz namens Heide nicht auslachte. Sie lächelte dafür, nickte mit dem Blondschopf kurz nach vorne und - zeigte mir etwas Gläsernes in ihrer Handmulde. „My glasses," sagte sie freundlich, wie wenn sie jemanden ein Kochrezept erläutert, ihre Kontaktlinsen trügen jeweils die Farbe, die sie zum Kleid, zum Rock, zur Hose auswählen. Auf der Massage-Liege von Herrn Meyer sinnierte ich über den Zusammenhang zwischen Mensch und dem, was er als Sehhilfe trägt, beziehungsweise wie er es trägt. Und ich bewunderte Kollegin Susanne in Hamburg, die eine vergnügt-buntdurchsetzte Brille ebenso souverän trägt wie Kollege Eckardt seine glutrote Brille. Nur Leute wie ich - wir tragen unauffällig unauffällige Brillen. In der Annahme, es wirke. Irgendwie. Vielen Dank, fürs Hinterherbringen, Frau Meyer.
31. August 1993