Trostpflaster für Uelzen
Früher, lästerte Alexander, habe er mit dem Thema ,,Pflaster" nur Pflastersteine verbunden. Und zwar fliegende. Straßenschlachten-Pflastersteine. In Uelzen hingegen fänden heute Straßenschlachten im anderen Sinne statt: Schlachten um das Pflaster auf den Straßen. Da beherrscht fast seit Ewigkeiten die Turm-Straßenschlacht die Pflasterszene wegen bemängelten alten, dann neuen, dann bemängelten neuen Pflasters. Oder so ähnlich jedenfalls. Die jüngsten Tage nach dieser Ewigkeitsthematik thematisierten das Hutmacherstraßen-Pflaster - neue Stolperstellen für Fußgänger auf dem dortigen Pflaster und angesichts der allgemein überhitzten Pflasterthematik sicher auch Stolperstellen für manche Seelen im Tiefbau oder Hochbau. Selten im Mittelbau. Er finde, meinte Alexander, daß es an der Zeit sei, die Wunden, die Uelzens Pflaster aufgerissen hätten (bei stolpernden Fußgängern, rutschenden Radfahrern, stolpernden und rutschenden Beamten oder Baufirmen) zu lindern: Mit Trost- Pflastern. Und wie so oft bietet das Philosophieren, das systematische Nachdenken über etwas, bereits Linderung. Also: Pflaster - ganz egal welche - haben etwas gemeinsam: Ihre Aufgabe. Die Aufgabe aller Pflaster aller Länder vereinigt diese, ihre Erbauer, ihre Epochen und Kulturkreise miteinander. Pflaster haben etwas zuzudecken. Immer. In Uelzen sind es Straßenunterböden. In der medizinischen Heilkunde sind es die oberen Unterschichten unserer Haut, die dann verdeckt werden, wenn diese verletzt ist. In der Seelenheilkunde wird es noch komplizierter, obwohl dort die Heilung mittels Pflaster mindestens so wichtig ist, wie bei der Haut. Siehe: Trost-Pflaster". Womit die freundlich-liebevolle Verdeckung einer seelischen Wunde gemeint ist, etwa durch materiellen oder zuwendungsmäßigen Ausgleich. Etwa dazwischen - zwischen Straßenpflaster, medizinischem Pflaster und Trost-Pflaster liegt das sogenannte ,,Schönheits-"Pflaster. Es ist aus dem Verkehr gezogen (mit Verkehr nämlich haben auch fast alle Pflaster-Sorten zu tun) und zwar seit dem Rokoko-Zeit- alter. Dort wurden Leberflecke mit solchem Schönheitspflaster verdeckt und da die Leberflecke in der Regel (im Gesicht) kleiner sind als anderswo, wurde beim Schönheitspflaster in der Regel die Diminuierungsform, die Verkleinerung benutzt: Schönheitspflästerchen. (Kleiner Exkurs: Die Schönheitspflästerchen wurden derart beliebt als Zeichen besonderer körperlicher Pflege, daß man, nein: Frau sie sich sogar dann anklebten, wenn sie keine Leberflecken besaßen. Wissenschaftlich riskant hingegen ist die Gedankenverbindung: Schönheit Pflaster. Von der ließe sich das sogenannte ,,teure Pflaster" ableiten, aber im anderen Sinne als Uelzens Pflasterproblem, was noch teurer wird). Der stymologische Heinweis, daß unser Wort Pflaster mit dem griechischen emplassein (,,aufschmieren") verwandt ist, beweist nur, wie gleich alle Pflaster sind - von ihrer Aufgabe her. In Uelzen nun - beim Straßenpflaster - haben wir jedoch ein ganz besonderes Phänomen: Während Pflaster normaler- weise Probleme zudecken sollen (psychologisch oder dermatologisch diagnostizierte Probleme) ist in Uelzen eben das Pflaster selbst das Problem. Und nicht eine Wunde, die darunter ist. Oder? Das Trostpflaster: Wenn die Dömitzer Brücke fertig ist und dann 30 000 Fahrzeuge auf Uelzens Straßen stopgehen - dann ist von all dem nichts mehr zu sehen. Weder vom Straßenbelag - geschweige vom darunter.
31. März 1992