Evangelisch ist schädlicher
Evangelische Gottesdienste sind eindeutig - und wissenschaftlich bewiesen, wie Onkel Friedrich-Karl nach dem Heiligabendvesper wetterte - weniger gesund als katholische. Er muss es wissen, denn Onkel Friedrich-Karl ist Herz- und Kreislaufspezialist, der seine Frau (die ist Kirchenvorsteherin) zunehmend kritischer in Gottesdienste begleitet. Evangelische. Die dortige gesundheitliche Schädigung hängt mit dem Sitzen zusammen: Heiligabend erlebten wir den absoluten Sitzrekord - da durften wir erst zum abschließenden „O du fröhliche" aufstehen. 55 Minuten ununterbrochen Sitzen! Jeder Masseur lernt das, jeder Physiotherapeut vermittelt es, was Onkel FK uns nach der Kirche predigte: Bewegung muss her! Wie früher vor jeder Lesung aufstehen, dehnen, durchatmen. Inzwischen weiß es jeder Vortragsredner: Das Gesagte kommt nur an, wenn sich das Publikum mal bewegen darf. An der Hamburger Uni sind gewisse Vorlesungen in Psychologie allein deshalb beliebt und besucht von fachfremden Studenten, weil der Professor alle 20 Minuten eine Körperübung macht: Im Stehen. Das lässt hoffen für die Zukunft der Psychologie, die ansonsten eigentlich ihre frühere Konkurrenz zur Theologie derzeit eher abbaut. Was jede Luftverkehrsgesellschaft an Bewegungsübungen bietet, soll gerüchteweise in ersten Schulklassen schüchternen Einzug genommen haben. Sitzwinkel versteifen, dozierte Onkel Friedrich-Karl und schauspielerte einmal einige der möglichen Versteifungen menschlichen Körper nach, welche das Gegenteil von Spaß, nämlich Schmerzen verursachen. Ganze Muskelpartien und deren Tonus leiden und weil alles mit allem zusammenhängt, wetterte Onkel, verlangsamt sich das Tempo unserer für das Zuhören ach so wichtigen Neuronen in den Strom-Schaltkreisen unseres Hirns, weil unsere Atmung abflacht, damit die Sauerstoffzufuhr, der Kreislauf... Alles in allem erzwingt Sitzen über 20 Minuten hinaus - dann führt alles zusammen zu einer Sorte von innerer Einkehr, welche Kirche nun ganz sicher nicht beabsichtigt. Schon gar nicht Heiligabend, wo man gut Werbung bei noch christlichen Wackelkandidaten betreiben könnte. Bei katholischen Gottesdiensten wird dagegen motorischer Wechsel kultiviert. Dabei denken die Verantwortlichen sicher weniger an Gesundheitspflege als an liturgische Rituale, aber mit dem häufigen Aufstehen/Hinsetzen/Aufstehen/Knien (sehr gesund) usw. wird eindeutig mehr für die RIQ getan? Für was? Ach so: Für receptionsintensity-quality also für die Zuhörfähigkeit getan. Nur in evangelischen Kirchen ist die Bewegung so rückläufig. Dafür aber wird (um etwas Gutes zu sagen) dort statistisch mehr gesungen als in katholischen Kirchen. Jedenfalls Heiligabend. Überhaupt: Mit Singen ließe sich das ewige Sitzen durchaus teilweise mindestens kompensieren. Eine in jeder Hinsicht ideale Mischung (von Gesundheitsförderungen, meine ich, nicht der hierzulande möglichen Religionen) wäre beides: Viel Bewegungswechsel (Stehen, Sitzen, Knien wie bei den Katholiken) mit Singen (wie bei den Evangelischen). Südamerikanische Gottesdienste sollen eindeutig am gesündesten sein: Dort darf getanzt werden. Und dabei fällt mir ein, daß der „Chor"-Raum, der Raum für den chorus in unseren Kirchen, ursprünglich ein Raum ausdrücklich auch für Tanz war. Daran werde ich wehmütig und hoffnungsvoll morgen im Sitzen denken. Im Silvestergottesdienst.
30. Dezember 1997