Gefürchtete Festzeiten

„Schau dir nur diese armen Schweine an," sagte der eine Engel zum anderen in der himmlischen Weihnachtspostzentrale. Es waren Engel neueren Datums die nicht alles so wichtig nahmen wie ihr Chef Petrus. „Was suchen sie denn, ja was suchen sie denn?", fragte der andere Engel und wies mit dem Zeigefinger über den Wolkenrand hinaus in Richtung Erde. Was die beiden meinten, waren nicht die armen Schweine, die lebensgefährdet waren durch die Schweinpest. Nein, die beiden mitleidigen En- gel meinten die fast zahllosen Verzweifelten, die nach den rechten Worten für die Advents- feieransprachen suchten, für entsprechend mehr Weihnachtsmaterial auf den Sonderseiten der Printmedien, für Kirchenpredigten und Moralpredigten an den Festtagen. „Die armen Schweine wissen nicht mehr, was sie sagen sollen," dachte der eine Engel: kein Wort, das nicht schon gesprochen, kein Gedanke, der nicht schon gedacht war! Dieser Engel, einst eine Frau, hatte sich im früheren Leben auch fast zu Tode adventelt und geweihnachtet. Hatte als Redakteurin jahrelang Kluges, Gebildetes und schließlich Ironisches zur Advent und Weihnacht verfasst. Als Mutter war sie aktuell über religionspädagogisch-kritische Advents- und Weihnachts-Lektüre informiert. Als Ehefrau war sie eine Köchin, die wusste, daß Essen in der Festzeit zu Speisen wird, zum Ritual. Kurz: Dieser Engel war (fast) perfekt als Mensch in der jeweiligen Festzeit gewesen. Weshalb sie hinterher auch immer chronisch erkältet blieb und bis Ostern hustete. Wie jeder Mensch, der etwas Quälendes endlich loswerden möchte. Und in allen diesen himmlischen Weihnachtsgrüßen an alle diese armen Erden-Schweine stand dieselbe Botschaft: Feiere - jetzt! Mit dem Hinweis darauf, wie man feiert: Vor dem Hintergrund der einzigen Vergangenheitsgeschichte, die davon erzählt, was sich damals begab. Und ohne die heute nicht andauernd gefeiert werden müsste: „Arme Schweine," wiederholte der eine Engel, denn noch suchten sie ja da unten verzweifelt. Und kamen noch nicht darauf, daß sie auch feiern dürften.

30. November 1993