Ferienpost

Da sind sie wieder - die morgendlichen kleinen Häufchen im Postkasten: Die Postkartengrüße von Freunden, die bereits urlauben, Postkarten von Kolleginnen und Kollegen, Postkarten von bekannten Bekannten und fast unbekannten Bekannten. Postkarten von sehnsuchtssteigernder Vierfarbqualität, mit der himmlische Ziele bereits auf Erden erreichbar geworden sind für die, die die Postkarten schreiben. Heute kam eine Postkarte von Michaela aus Kreta, auf der eine gepresste Blume geklebt war der verdörrte Rest eines durch die Post amputierten Pflanzenstengels lässt eine frühere Blume jedenfalls vermuten. Der Text umseitig? Vergessen wir ihn immer dasselbe von immer denselben! Gestern kam eine Karte von Uwe aus Florida - mit eingepresster Mini-Schallplatte darauf, die er mit seiner diessommerlichen Freundin persönlich besprochen hat. Die übliche Text-Trivialität: „Es geht uns gut, das Wetter ist noch besser als zuhause. Ihr (wir!) sollten mal vorbeikommen - Amerika ist super!" Ich regte mich bei Alexander über diese Art Zuwendung auf, die keine ist. Er nickte, als ich ihm meine Interpretation anbot, die jährliche Ferien-Karten- schwemme sei weder richtige Post noch Zuwendung, bestenfalls Beschäftigungstherapie für sich allein oder miteinander langweilende Urlauber. Und normalerweise soll - Ärgert ich mich, denn Walter schrieb heute gerade aus Indien, wohin ich immer schon wollte normalerweise soll manche Postkarte den Empfänger nur neidisch, nur lüstern auf Nichterreichbares machen. Oder der Schreiber gibt ganz schlicht an...Alles zusammen ergäbe, daß die meisten Postkarten aus den unbewussten Gründen einer Profilierungsabsicht geschrieben werden, manchmal sogar aus profilneurotischen Nöten heraus- bot ich Alexander an. Einfach nicht lesen sollte man diesen Postberg von Geschmacklosigkeiten. Doch Alexander war offensichtlich anderer Meinung. ,,Ich," sagte Alexander, „lese solche Postkarten sehr aufmerksam, weil ich nicht mehr reinfliegen möchte bei meinen Leuten". Und er erzählte, wie sein Rektor (Alexander ist sein Konrektor) vor 3 Jahren einmal auf einer Postkarte aus Spanien ganz klein unter den üblichen Text geschrieben hatte, daß er einen Antrag auf Förderungsmittel für Schüleraustausch vergessen habe. Er - der liebe Kollege Alexander, von dem er wüsste, daß er die Ferien zuhause verbringe - er möge doch so nett sein und den Antrag ausfüllen (dritte Schublade links im Rektorat) und an die Förderstelle senden. Er hätte es den Eltern der für einen Austausch vorgesehenen Schüler fest versprochen. Oder die einstige Postkarte von seiner Tante. Diese Karte kam zwar nur aus Garmisch-Partenkirchen, aber die Tante war dafür 83 Jahre alt und vor allem Erbtante. Diese Tante erinnerte sich voll Schrecken daran, daß sie an keine Pflege-Vertretung für ihre 34 verschiedenen Pflanzen bzw. deren Wasserversorgung gedacht hatte. Ob er Alexander nicht so nett sein könnte? Der Schlüssel für die Wohnung liege bei der Raumpflegerin, die unhilfsbereit sei...Ich war noch in Gedanken bei dem Rektor und Alexanders Erbtante und Alexanders Unfähigkeit, sich gegen andere und Zumutungen abzugrenzen. Weswegen ich ihm Herzinfarkte ausmalte. Aber diesmal kam ich nicht zu meiner Warnung, weil Alexander ins Haus gegangen war, von dem er mit einer dieser bunten Postkarten zurückkam. ,,Hier," sagte er und hielt mir eines dieser Kitsch-Exemplare von Postkarte entgegen. Sie zeigte die Algarve in Portugal vorne. Und hinten meine Handschrift, in der ich Alexander 1991 darum gebeten hatte, mir die Korrekturfahnen meines neuen Buches nachzuschicken. Die hatte ich nämlich vergessen und das Nichtlesen hätte mir eine Konventionalstrafe eingebracht. Seitdem," meinte Alexander, ,,nehme ich Postkarten sehr ernst".

30. Juni 1992