Menschliche Kommunikation
„Ich lese gerade ein Buch," begann Ulrike, kam aber nicht weiter, weil Alexander trocken einfügte, daß jetzt - während der Ferien - jeder gerade ein Buch läse. Mangels TV läsen sogar Analphabeten, indem sie in Illustrierten blätterten. Ulrike schwieg beleidigt. Überflüssig zu erwähnen, daß die beiden ein Paar sind. Derartige Liebenswürdigkeiten sind paarspezifisch. „Verdammt nochmal," Ulrike setzte sich aufrecht hin in ihrem Liegestuhl, „ich lese gerade ein Buch, das ich für den Unterricht in der Oberstufe lesen muss, und wollte dir das jetzt erzählen, wollte mich dir mitteilen, wollte mit dir auf eine Art und Weise kommunizieren, wie wir sonst nicht miteinander kommunizieren können im Alltag..." Erwartungsvoll beobachtete sie Alexander, der weniger Gott als seiner Ulrike ergeben ein Buch zuschlug und „also - ich höre!" murmelte. „Ich finde das unmöglich!" ereiferte sich Ulrike, kam aber nicht weit, weil Alexander sie schon wieder unterbrach, sich ebenfalls ereifernd: „Soll ich nun zuhören, wenn du mir erzählst, daß und was du liest oder willst du mich beschimpfen?" Ulrike zog ihr verzweifeltes Gesicht: „Aber ich meinte doch nicht dich, wenn ich eben sagte, daß ich das unmöglich finde. Ich meinte das Buch, Lieber!" Alexander war beruhigt, klappte sein Buch auf und fuhr fort mit seiner Lektüre. „Da hört sich doch jetzt alles auf!" Ulrikes Stimme ging in die Höhe und mit ihr sie selbst. Sie schoss aus ihrem Liegestuhl und baute sich vor dem verdutzten Alexander auf. „Meinst du jetzt wieder dein Buch oder mich?" fragte er - seine betont ruhige, sonore Stimmlage nutzend. „Jetzt meine ich dich, verdammt nochmal!" fauchte Ulrike. Alexander klappte erneut sein Buch zu, seufzte und fragte mit friedfertiger Stimme, ob sie jetzt nicht besser ein konfliktzentriertes Gespräch führen sollten. Da sei doch offenbar bei ihr Aggressivität in den letzten Tagen aufgestaut, die sich Platz suche. „Wieso bei mir?" Ulrike wütete jetzt, was sie dadurch zu zeigen pflegte, daß sie knallrote Ohren bekam und ihre Stimme dafür leiser wurde. „Wieso nur bei mir - wo ich mich dir ganz normal nähere und aus meinem Buch erzählen will? Wieso, bitte schön, ist bei mir aufgestaute Aggressivität?" „Weil du hier herumfluchst," sagte Alexander sanft, weil auch er hier und da ebenso gern wie kräftig fluchte. Und noch sanfter fügte er hinzu, was denn das nun für ein Buch sei, das Ulrike lese. „Menschliche Kommunikation!" schrie Ulrike. „Ach nein," sagte Alexander höflich interessiert, „Menschliche Kommunikation - dieser alte Schinken von Watzlawick? Gibt es da denn eine neue Auflage dieser alten Psycho-Bibel?" „Nein," sagte Ulrike, diesmal ganz ruhig, „keine neue Auflage, aber ein gutes Kapitel darin. Das handelt davon, wie man am besten solche Unterhaltungen vermeidet, wie diese mit dir!" „Ja," frohlockte Alexander, „du meinst das Kapitel über Interpunktionen. Ich meine, als du meintest, er habe was über Aussteigen aus unserem Gespräch geschrieben, oder?" Doch Ulrike beendete jetzt tatsächlich das Gespräch: Das braune Büchlein der „Menschlichen Kommunikation" flog in Richtung Liegestuhl mit Alexander darin und traf ihn am Bauchnabel. Und die Moral von der Geschicht'? Nein, nicht die, daß man in den Ferien keine Psycho-Bücher lesen sollte. Eher die, daß es ein unerreichbares Ideal ist, sich wochenlang ununterbrochen liebevoll umgeben zu können. Es lebe die menschliche Kommunikation! Es lebe der gesunde Streit! Hauptsache, man weiß etwas genauer als Alexander und Ulrike, woher er kommt und wohin er von der Absicht her führen soll...
30. Juni 1991