„Der beißt nicht!"

Sie kamen uns von ferne auf dem Waldspaziergang entgegen, eine wandernde Idylle, die Harmlosigkeit in Gestalt von drei Figuren: Ein Mann, eine Frau, ein Hund. Eigentlich ein normaler Hund, wie er da brav zwischen den beiden uns entgegenwackelte. Der Cocker da vorn hatte uns inzwischen entdeckt, löste sich von seinen Erziehern und cockelte auf uns zu, in großen Sprüngen und laut bellend. „Sieh mal - genau wie unsere Deva früher", sagte ich voller Wehmut zu Christine, und da- nach sah ich mich um nach einem Schutz, denn das Gejage und Gebelle von dem Cocker nahm zu und außerdem Richtung auf uns. Mein Schritt wurde erst beherzt - mannhaft, dann hektisch. Die dann einsetzende Angstphase hing dennoch nicht nur mit dem Tier zusammen, das auf uns zulief und dabei bellte, sondern mit dessen Frauchen und Herrchen. Die hatten sich nämlich hinter ihrem Hund her in Bewegung gesetzt und rannten, als wenn es um ihr Leben ginge. Dabei ging es um meines und das von Christine. Außerdem hörten wir das Frauchen und das Herrchen um die Wette brüllen. Abwechselnd hörten wir sie den Namen ihres Vierbeiners schreien und den kurzen Satz „Der tut nichts!" (das Herrchen) und „Der beißt nicht!" (das Frauchen). Der Cocker blieb auf halbem Wege stehen und ließ sich, immer noch laut bellend, an die Leine nehmen. Wie wenn sie selbst verfolgt worden, selbst bedroht wäre, stand die Frau hinter ihrem Cocker und zerrte an der Leine, als ob es ein Tiger wäre. Der Mann neben ihr sprach begütigend den Satz „Ist ja gut, ist ja gut" - wie eine Schallplatte, und es war nicht auszumachen, ob der Satz seiner Frau oder seinem Hund galt. Eine Szene auf einem Waldweg. Die gleiche Szene erlebe ich in Schlossparks, an Seen und Stränden, überall dort, wo Herrchen und Frauchen mit Hundchen gehen. Und langsam interessiert mich diese Sorte - nein, nicht die der Hunde! - diese Sorte Besitzer. Sind es Menschen, die ihre Hunde etwas ausagieren lassen, was sie selbst nicht ausdrücken dürfen? Bedrohung zum Beispiel, Angstmache? Wären sie selbst lieber gern Ungeheuer als angepasster Durchschnitt, mit einem Status, aus dem sie sich mit Hilfe solcher Ungeheuer von Tieren befreien und das Drama suchen? Oder möchten solche Besitzer erreichen, daß man sich bei ihnen für den Schutz bedankt? Sozusagen mit Dankesworten auf die Knie fällt für die Lebensrettung, für die sie, die Besitzer dieser Raubtiere, sich unter Einsatz ihres Besitzer-Lebens einsetzen? Ich kenne auch andere Menschen, die Hunde besitzen. Da reichen kurze Worte, um die Löwen zu bändigen oder die Leine wird gar nicht erst abgenommen. Und noch eine Sorte kenne ich - von Hunde- und Tierbesitzern. Das sind die, die neben einem Lamm oder Kaltblüter stehen und vor solchen gutmütigen Lebensgenossen, an denen ein Rudel Kinder hängt zum Schmusen und warnen: „Achtung, der beißt!" „Vorsicht, die kratzt!" Und dabei ist das Schmusen schon im Gange. Eigentlich tun solche Typen von Menschen dasselbe wie Herrchen und Frauchen vom Cocker im Wald: Sie tun nur so. Die einen tun nur so, als ob ihre Hunde nicht beißen. Die anderen tun nur so, als ob sie beißen. Am wohlsten fühle ich mich dort, wo nicht so getan wird als ob. Die Psychologie nennt das „double binded", doppelt gebunden, zweiseitig, ambivalent. Denn da brauche ich meine Energien nicht zur Aufrechterhaltung meines mannhaft-beherzten Schrittes, den ich dann erst recht gerne beibehalten würde, wenn Christine dabei ist. Ich beschütze halt auch gern.

30. Januar 1990