Gardinenpredigten

Alexander hat eine Gardinenpredigt durchgemacht. Was das ist? Eine Gardinenpredigt ist die Umschreibung für eine Strafrede, die - laut Wahrigs Wörterbuch - meist die Frau dem Mann hinter dem Bettvorhang (Gardine) hält. Der Inhalt einer solchen Rede ist naturgemäß überwiegend intimen Charakters. Und so war es auch: Anlass für die Gardinenpredigt war Alexanders Ohropax. Immer schon lebte Alexander (er ist sehr geräuschempfindlich) mit Ohropax. Das heißt, nur mit Ohropax konnte Alexander schlafen - jenem Ohrenschutz für Sensible, der aus niedlichen rosa Bällchen besteht, deren weiche Rundungen sich ganz dem individuellen äußeren Hörgang anpassen, weil das Hauptmaterial Wachs ist, vermischt mit rosafarbener Watte. Beides zusammen soll den Schlaf eben auf Watte betten und einen in Frieden ruhen lassen. Schließlich heißt das ,,Pax" (lat.) in Ohropax ,,Friede". Soweit die überzeugenden Vorteile. Der Nachteil dieser schlaffördernden rosa Bällchen besteht in ihrer betörenden Ästhetik - die nur anfänglich wirkt. Schon nach kurzer Benutzung für langen Schlaf wandelt sich das rosafarbene, weiche Bällchen in ein undefinierbar unappetitliches Etwas, das sich Alexander jahrelang ungerührt in die äußeren Gehörgänge schob, um Ruhe zu haben. Ungerührt davon, daß er dies im Schlafzimmer tat, das Alexander mit seiner geliebten Frau teilt, und in dem eigentlich Ästhetik und schöne Unruhe auch Platz haben sollten. Neben dem erholsamen Tief - Schlaf dank Ohropax. Und so kam es zum Unfrieden zwischen dem Paar wegen des Ohrenfriedens von dem Mann. Alexanders Frau wollte Alexander nicht mehr mit diesen Kugeln im Ohr, die - je besser sie darin passten - umso abstoßender wirkten. Und eben nicht nur auf die akustischen Reize. Er solle ja nicht darauf verzichten, habe seine Frau gesagt, sie nur häufiger wechseln. „Das war sie - die Gardinenpredigt!" seufzte Alexander heute Morgen, als ich ihn in der Apotheke traf, wo er sich nach Alternativen für Ohropax erkundigen wollte. Denn Alexander liebt seine Frau. „Gardinenpredigt?" sagte Matthias, der mich begleitet hatte, weil er Schnupfen hat, „Gardinenpredigt ist etwas anderes gewesen als Ehekrach hinterm Bettvorhang." Er hat leicht was Lehrerhaftes, mein Vetter Matthias, aber leider hat er auch meistens recht. Und so hörten wir ihm zu, Alexander und ich, als er unter Niesen und Husten (weswegen er in der Apotheke war) den historischen Hintergrund für die ,,Gardinenpredigt" referierte: Mit Vorhang hatte sie schon zu tun, die ganz alte Form der Gardinenpredigt. Aber nicht mit dem Bettvorhang, sondern mit den Vorhängen, die die Bürger einer holländischen Provinz vor ihre Fenster hingen. Um sich den Blicken der Vorübergehenden entziehen zu können. Tatsächlich erinnerte mich in Holland an die gardinenlosen Fenster, durch die Christine und ich beim abendlichen Urlaubsbummel gerne auf die Holländer und ihr Familienleben guckten. „Die Kirche - in Holland besonders streng damals - bestand darauf, daß das Familienleben stets so vorbildlich sein musste, daß jedermann es von draußen sehen und (der Kirchenmann) notfalls kontrollieren konnte, fuhr Matthias fort und nieste anschließend. „Als die ersten Leute sich gegen diese strenge Regel wehrten und die damals modernen Gardinen vor die Fenster hingen, setzte es Predigten von der Kanzel aller Kirchenmänner - Predigten, in denen diese Unsitte der Gardinen abgekanzelt wurde." Denn die Sittlichkeit wurde mit dem Gardinenvorziehen gefährdet. So könnte ja jeder machen was er wolle...Matthias musste es wissen, schließlich hat er außer seinem Schnupfen auch Theologie und Kirchengeschichte studiert, erklärte ich dem verdutzten Alexander, der sich aber nicht weiter um Matthias Gardinenpredigt kümmerte, sondern um das Plastikröhrchen, das ihm der Apotheker vorgelegt hatte. Zwei gelbe Kunststoffballen lagen darin. Die Nachfolger von Ohгорах. „Mir egal," brummte Alexander zu Matthias und mir, „Hauptsache ich habe wieder Frieden im Bau." Und dann bezahlte er die Neuerwerbung und ließ offen, ob er mit dem Frieden denjenigen in seinem Schlaf meinte oder den in seiner Ehe. Oder beides.

29. Oktober 1991