Nachhilfe für Ebstorf

Sie feierte vor zwei Tagen ihren Geburtstag. Einen oberhalb der siebzig. Und es scheint, daß sie noch lange Ebstorf als Nachhilfelehrerin erhalten bleiben wird und Ebstorf ihr. Die Rede ist von Sophie Wichelmann, bei deren Erscheinung ich mich nicht entscheiden konnte, ob sie eher jung wirkt oder vital, ob sie eher energische Dame oder Weib schlechthin ist, ob sie eher das Paradebeispiel für eine pensionierte Lehrerin oder Prachtbeispiel für lebenslange kreative Aktivität ist. Ich entschied mich dafür, daß Ebstorfs Sophia Wichelmann eines ist: Ein wirklich echtes Original, welches bekanntlich Ecken und Kanten, Rundungen und jene Attraktivität haben muss, um ein solches geworden zu sein. Als Frau Wichelmann noch die Schülerin Sophie war, gab sie nachmittags ihren ersten Nachhilfeunterricht. Den Klassenkameradinnen, die es nötig hatten. Ihr Nomen, genauer ihr Vorname Sophie (Sophia, griech. „die Weise") war nicht nur Omen, vielmehr Programm: Als Realschullehrerin durch diese zweite Jahrhunderthälfte hat sie sich nicht mehr zählbare Schüler in die Schule bestellt, teilweise nachhause- und eben nachgeholfen. Ich denke an die Vitalität und das Tempo, mit dem mir Frau Wichelmann das allererste Mal auf ihrem Fahrrad entgegenrollte: Da war etwas Unaufhaltsames, Unvermeidliches im Temperament ihrer Annäherung - und aus der Nähe blitzten ihre immer noch blanken Augen Zielsicherheit und Konzentration auf das Gegenüber ab. Gewisse Schüler müssen sich wie Kaninchen gegenüber einer nein, das Bild von der Schlange passt nicht. Schlangen sind nicht mütterlicher Natur und Figur, sind nicht ebenso warm wie auch großherzig. Denn Honorar für Nachhilfe nahm Frau Wichelmann nachweislich nur dort, wo es keinerlei Probleme machte - und oft genug gar nicht. Möglicherweise zu Strenges, zu Überrollendes im Wichelmann'schen Temperament wird durch die Freundlichkeit und Haar-locker-ländlich-offene Tracht ausgeglichen, die ich mit den alten Fotos von Pastorentöchtern im Sommergarten verbinde. Nachhilfe für Ebstorf ist Frau Wichelmann im weitergehenden Sinne: Was wäre Ebstorf ohne seine Geschichte? Und die hat Frau Wichelmann aufgeschrieben und veröffentlicht im Becker-Verlag mit Professionalität und Liebe, einer selten gewordenen Kombination. Nicht alle Heimatforscher sind kompetent und schon gar nicht ist Kompetenz auch mit Heimatliebe verbunden wie bei der weisen Sophie von Ebstorf. Ihre Führungen durch die Institutionen Ebstorfs (Kirche, Kloster und andere K's) sind selbst Institution. Sie erlebte und überlebte nicht nur bisherige Bürgermeister und Schulmeistergenerationen. Vielmehr lernten die Führungskräfte im Flecken, oft ehemalige Schüler von ihr, als Erwachsene vielleicht intensiver und bedürftiger, welche blinden Flecken um den Flecken ihr Geschichtswissen hat. Und lernten fleißig, was Sophie schrieb. Wer wissen will, woher er kommt, aus welcher Familiengeschichte und wo und wann was... um Sophie kommt ebenso keiner herum wie wenn sie einem entgegenradelt. Unermüdlichkeit und Temperament prägen dieses Original. Und Forschergeist: Längst vor dem Begriff und der Forschung und Sonderförderung um Legasthenie, förderte die Frau Wichelmann lese- und rechtschreibschwache Schüler. Und bewirkte, daß einige von diesen nicht auf die Sonderschule kamen, sondern heute erfolgreiche Akademiker sind...Apropos Job und Arbeit: Wenn das mit dem Job, mit der Lehrstelle für ihre früheren Schulabsolventen nicht klar war - dann sprach sie bei Lehrherren, früheren Schülern, vor. Erfolgreich versteht sich. Ein altmodisches Fürsorge-Modell, das aktuell gut täte. Sie hatte immer mehrere Jobs, meine ich. Der bedeutendste: Nachhilfe. Für Männer, leibliche Kinder war kein Platz. Nicht einmal die geistigen Kinder reichten ihr in Schule und Nachhilfe. Deshalb organisierte sie Schüleraustauschprogramme mit Frankreich und kümmerte sich nicht nur um Lebende, sondern auch um Tote im Bemühen um Kriegsgräberstätten-Pflege. In diesen großen Ferien - wo alle weg sind - da sind die Touristen und Hiergebliebenen dran: Sophie Wichelmann führt durch umliegende Heidekirchen. Auskunft: Verkehrsamt Ebstorf. Sie ist eben die Nachhilfe von Ebstorf. Und nicht nur da.

29. Juli 1997