Von Dienern und Bedienten

Das erste, Diener nämlich, gibt's gar nicht mehr - sagt Alexander Und fügt befriedigt hinzu: Gott sei Dank. Diener pflegt er, der aus alter sozialdemokratischer Familientradition stammt, seinen Schülern im fast predigthaften Ernst zu sagen, „Diener waren ein Ausdruck der Ausbeutung der Arbeitskraft des Volkes durch dessen Herrscher und Beherrscher. „Und ebenso ernsthaft wie ausführlich fährt Alexander bei dieser Unterrichtseinheit fort- ungestört von den Seitengesprächen und heimlichen Spielchen, mit denen seine Schulklasse dieses spannende Thema quittiert. Es liegt ihm halt am Herzen, dies Thema. Nun hat Alexander gewonnen - in einer Klassenlotterie. Und dies nicht schlecht. Unartikuliert jubelnd und mit dem Benachrichtigungsschein winkend war Alexander an den Gartenzaun gestürzt und lud uns spontan ein, den Gewinn (einige Tausender immerhin) zu feiern. Alexander lud uns in eine Hansestadt ein und in der in ein Restaurant, das so alt wie die Hanse war und in der die Senatoren ihre Wahlen und die Kaufleute ihre erfolgreichsten Schiffsladungs-Löschungen ebenso gefeiert haben sollen - wie die Lotterie-Gewinner heutzutage ihren Gewinn. „Ihr werdet staunen", ver- sprach Alexander, „das ist ein Lokal, wie Ihr es nicht kennt! Wir staunten sowieso - über die Tatsache, daß wir nun einen lebendigen Menschen persönlich kennen lernen durften, der im Lotto gewonnen hat. Dann staunten wir über den Umstand, daß Alexander gespielt hatte, was seinem sonstigen Weltbild so gar nicht entspricht (schließlich diplomierte Alexander über Suchtgefahren). Drittens beschäftigte mich der Umstand, daß Alexander (man denke an seine sozialdemokratische Tradition) einfach und ohne Skrupel in mit- einer Klassen(!)-Lotterie spielte statt in einem klassenlosen Spiel. Aber ich wollte Alexanders Gewinn mitfeiern. Und dieses Restaurant kennenlernen. Was soll ich sagen? Es ist unsagbar, was in diesem Edelrestaurant auf uns wartete: Diener! Wirklich und wahrhaftig standen vier davon parat an der Wand, unserem Tisch zugeordnet. Und wir waren nur vier Personen - für jeden von uns ein Diener. Zwar trugen sie keine Livree, geschweige die Lieblingsfarben von Alexander (rotbraun), aber sie verfolgten jede unserer Eß-Gesten. Jedenfalls „mein" Diener verfolgte mich mit der Frage nach dem Aperitif (klar), dann nach dem Dressing für die Vorspeise (auch klar), dann nach dem Nachlegen bei der .... Vorspeise (das schon übertrieben), beim ersten Hauptgericht, ob ich nachgelegt bekommen haben will (obwohl der Teller noch halb voll war). Dessert, Kaffee nichts war zu genießen, ohne daß ich nicht bewertende zwischendurch Kommentare abgeben musste, wieweit ich zufrieden sei. Selten habe ich mich mit Alexander und seiner Frau, mit Christine und mir so schlecht unterhalten - weil die Diener mit den Argusaugen ihrer hochbezahlten Höflichkeit alle Wahrnehmung und Konzentration beanspruchte. Am schlechtesten ging es anscheinend Alexander. Er stocherte mit der Gabel im Essen und mit seinen Blicken auf die Diener ein. Auf seinen und unseren. Und ab und an murmelte er – „wahnsinnig" „idiotisch", „das darf doch nicht wahr sein". Nachts auf der Rückkehr diskutierten wir über Sozialdemokratie und Feudalismus. Verdeckten, versteckten, verkümmerten Feudalismus.

28.09.1993