Love? Parade!

Woran denkt ein Mann, der zur Arbeit fährt, woran seine Frau zuhause denkt, wenn er zur Arbeit fährt? An ihn natürlich. An den Mann, der zur Arbeit fährt. Das dachte auch ich, als ich zur Arbeit fuhr bzw. diesmal flog, weil meine Arbeit auf einer Konferenz in Melbourne war. Und in Australien war ich auch noch nie, was mich abenteuerlicher stimmte und sicher auch für Christine machte. Dachte ich, als ich im Flugzeug sa. Doch jede Ehe birgt Irrungen und Wirrungen. Denn als ich voller australischer Konferenz-Abenteuer am Satelliten-Telefon auf die Möglichkeit wartete, meine Heldentaten vom Arbeitsplatz zu berichten, klingelte das Telefon durch- und keiner ging ran. Obwohl ich die Zeitverschiebung genau berechnet hatte. Erst beim dritten Mal war sie wieder da, die Frau, die mitnichten zuhause voller Bängnis gewartet hatte. „Wir waren auf der Loveparade in Berlin! Ganz kurz entschlossen!" erzählte mir mein Weib so strahlend, daß meine australischen Heldentaten sich in peanuts wandelten. „Es war," ihre Stimme war ganz ungewohnter Weise eine runde Terz höher und noch mädchenhafter als sonst, „es war einfach ungeheuer!" Ich lauschte dem Sound ihrer Stimme von fast genau der anderen Seite unserer Erde und fand dasselbe wie sie: Es war ungeheuer. Jedenfalls mir nicht geheuer: Ich fliege in ferne Welten und statt Ängste um mich zu pflegen und auszuhalten, also an mich zu denken, während ich arbeite, fährt sie auf diese Loveparade, die ich nur als Spektakel der ganz Jungen kenne: Mit Musik oberhalb von 95 Dezibel, mit schwerem, hartem, statischem Rhythmus und leichter, lockerer, loser Kleidung und Weltanschauung. Und dann Berlins Loveparade! Konnte es nicht Hamburgs oder Hannovers dagegen kleinbürgerlichere Street-Parade sein, die erstens geographisch näher und zweitens dadurch kontrollierbarer ist. Den Anlass zu diesem Ausflug war Dorotheas Enttäuschung, daß sie nicht mit Thorsten, ihrem Freund, so eben mal nach Berlin konnte. Zwar war Thorsten ein Freund der individuellen Love (zu ihr), aber ein Feind der kollektiven Love, geschweige deren Parade. Jedenfalls hatte er ein Opel-Treffen an eben dem Wochenende (vorgeschützt). Ist es die unbewusste Rache einer Frau, wenn der Mann solch interessante Arbeit an solch interessantem Ort hat, die die Frau die Flucht in Berlins Loveparade nehmen lässt - unter dem Vorwand, die Tochter trösten zu müssen. Ist es der Nachholbedarf, den die Mutter gegenüber der lebenslustigen Tochter hat, der sie diese Welt der Tochter einmal erleben lassen möchte? Vielleicht ist es auch nur das seriöse wissenschaftliche Interesse an einem gesellschaftlichen Phänomen, das eine Frau von heute zur Loveparade fahren lässt, drei Stunden hin, drei Stunden da, drei Stunden zurück? Zumal wenn eine Frau soziologisch und psychologisch interessiert ist an solchen Phänomenen? Das alles denkt ein Mann in der weiten Ferne und Fremde, der begreift, dass seine Frau nicht an das denkt, was er am liebsten hätte, daß sie daran denkt - an ihn. Wie sie das denn fände, fragt der verunsicherte Mann am anderen Ende der Welt die ihn begleitende jüngere Tochter. Daß ihre Mutter - einfach so, nur weil die andere Tochter gerne love paradieren möchte - hinfährt? Ausgerechnet dahin? Und die jüngere Tochter strahlt ihn an und sagt: „Toll! Ich finde, wir haben eine irre Mutter - daß sie sich das traut und hinfährt..." Und sie fügt mit einem Seitenblick hinzu: „Wenn Du zuhause wärst, würde sie das bestimmt nicht tun..." Ich habe mein Laptop samt Internetanschluss mit in Australien. Ich habe die nächsten Termine für die nächste Loveparade in Berlin gesucht. Aber nicht gefunden. Ich muss noch warten, um denen zuhause zu zeigen, was ein moderner Vater und Ehemann ist. Woran denkt ein Mann, der zur Arbeit fährt? Natürlich denkt er nur, womit er seine Frau glücklich machen kann, wenn er zurückkommt. Egal womit.

28. Juli 1998