Familientreffen

Ein Familientreffen ist ok. Zwei davon sind aushaltbar. Drei sind unerträglich. Denn da hocken die Schulmeister der Nation. Bei Tante Sigrids 70. Geburtstag in Bethel (Tante Sigrid ist Diakonisse) bewunderte ich in meiner Rede, dass und wie Tante Sigrid vor ihrem Studium noch große Krankenpflege gelernt habe. „Falsch!" krähte Tante Sigrid kritisch in meine Rede hinein, „kleine Krankenpflege, nicht große!" Als ob ich sie mit meiner Beförderung beleidigt hätte. Als ob sie nicht verhaltener ihre Korrektur hätte hinterher anbringen können. Bei Vetter Ernst's 80. in Wolfenbüttel ging es in seiner öffentlichen Lebenserinnerung vor Freunden und Verwandten um einen Schäferhund Alex. „Alex war ein lieber Freund meiner Kindheit," erzählte Ernst bewegt und weiter, wie Alex dann leider an seiner Leine viel zu früh friedlich an Herzversagen starb. „Ich kann widerlegen", flüsterte mir Ernsts Schwester zu, dass der Hund frei herumgelaufen war. „Außerdem war es ein Schlaganfall, kein Herzversagen." Sie fand diese Ungenauigkeiten untypisch und schädlich für Ernst, weil Ernst Amtsrichter, sogar Gerichtschef gewesen war. Hildegard feierte jetzt Sonntag ihren Geburtstag auf der Mitte zwischen Sigrid und Ernst, bei 75. In Altenmedingen. Hildegard ist Musikerin und ihr früherer Mann ist dies auch. Als Hildegard eine gemeinsame Freundin von früher erwähnte, die Sopran gesungen habe, rief ihr ihr Ex-Mann zu: „Alt! Sie sang nicht Sopran, sie sang Alt!" Sein schulmeisterlicher Zwischenruf ist jedoch teilweise verzeihlich, mindestens erklärbar, weil er nicht nur Schulmeister war, sondern auch solche als Professor ausbildete. An die Schulmeisterlichkeit von Familienmitgliedern, die dieselbe Vergangenheit gelebt haben wie man selbst, kommt jedoch kein echter Schulmeister heran. Familienmitglieder, Geschwister allen voran, aber eben auch altgediente ehemalige oder aktuelle Paare haben im Blick auf dieselbe Geschichte die Weisheit bzw. Richtigkeit ihrer Erinnerung mit Löffeln gefressen. Während auf einem solchen Treffen die eingeladenen Freunde und Kollegen, entfernte Verwandte oder nahe Nachbarn höflich und gerne den Geschichten aus der Lebensgeschichte des Jubilars zuhören, oftmals gespannt lauschen, warten die nahen Verwandten gespannt auf die Gelegenheiten, dem anderen die Falschheit zu beweisen und die Richtigkeit mit Löffeln gefressen zu haben. Ehemaligentreffen von Klassenkameraden oder Konfirmanden fallen auch durchaus unter diese Rubrik derer, die sich um Daten streiten wie gelernte Historiker. Eine Familientreffen ist ok. Zwei sind aushaltbar. Drei Familientreffen sind unerträglich. Dass es bei Hildegard so schön war, lag daran, dass ich nicht zur Familie gehörte. Und in meiner Familie habe ich jetzt Pause. Bis zu Onkel Hans-Heinrichs 85.

28. Juni 2005