Von Liebesheirat und Lautsprechern
Die großen Messeausstellungen mieten die Korridorflächen der Waggons für ihre Daten und die Schaukästen auf Bahnsteigen sind gemietet für Süßes, Sportives, und (Ver-) Sicherndes. Es ist eine Frage der Zeit, bis die Bundesbahn auch die Außenflächen der Lokomotiven, der Personen-Waggons Container-Güterwagen vermietet. Für alles, was das infarktbedrohte Herz, die fernwehkranke Seele, der stressgeschundene Körper und der Firmenumsatz sich nur wünschen können. Nur eines werden wir uns bei unserer Bundesbahn nicht mieten können: Das sind ihre Lautsprecher. Sehen wir einmal ab von Meldungen, die freundliche Beamte der Bundesbahn dann durchgeben, wenn wir in Nöten sind („Herr Meyer wird zum Aufsichtsbeamten auf Gleis 2 gebeten" - weil Frau Meyer ihn im Gedränge verloren hat oder ähnliche Unfälle) - sehen wir von diesen einmal ab, dann lässt sich die Bundesbahn überall mieten. Das war bei Alexanders Tante Ingeborgs Hochzeitsreise noch ganz anders - erfuhren wir bei ihrer Goldenen Hochzeit, die wir jetzt Pfingsten feierten, zusammen mit Onkel Leo, dem pensionierten, alten Lokomotivführer von nebenan, der damals auf Tante Ingeborgs Hochzeit ein junger Lokomotivführer war. Der erzählte davon, daß man damals die Lautsprecheranlagen noch mieten konnte. Tante Ingeborg erzählte: In Holdenstedt hatte das junge Paar geheiratet und sich - bescheiden, wie es die Nachkriegszeit ebenso wie die Familienerziehung geboten - gleich nach der schlichten Trauungszeremonie zum schlichten Festessen nachhause begeben. Kein Trara mit gemieteter Hochzeitskutsche und gemietetem Festsaal eines Hotels und gemietetem Hof Fotografen. Nichts davon. Man mietete nichts man heiratete sich damals noch allein. Der Bräutigam von Tante Ingeborg war (wie die meisten Männer auf der eigenen Hochzeit) eher noch bescheidener als ohnehin schon durch seine Erziehung. Er war sogar an diesem Tag der Hochzeit nahezu unbedeutend. Bedeutend für diese Geschichte ist nur, daß er seit Jahren mit Onkel Leo im Schach-Club gespielt hatte. Und so kam es, daß sich Tante Ingeborg und ihr Bräutigam ganz voraussehbar am Ende des Hochzeitstages müde und erleichtert in einem Zugabteil zurücklehnten und die winkende Hochzeitsgesellschaft auf dem Bahnsteig schon nach mehreren hundert Metern Strecke vergaßen. Denn die Hochzeitsreise war eine geschenkte Bahnreise nach Kassel und die erste Gelegenheit für die Brautleute, ihr Liebesleben weiter zu üben und zu verfeinern. Dazu gehörte auch das leise Flüstern von Botschaften zwischen den Liebenden. Das ging bis Unterlüß so. Dann war jäh Schluss mit dem leisen Liebesgeflüster. Draußen auf dem Bahnsteig funktionierten nämlich die Lautsprecher so, wie sie auch sollten: Laut sprechend. Tante Ingeborg und ihr Bräutigam hörten ebenso unausweichlich wie dröhnend ihre Vor- und Nachnamen. Wir begrüßen das Brautpaar (es folgten alle ihre Namen), das in diesem Zug seine Hochzeitsreise macht, herzlichst - und wünschen den Jungvermählten eine gute Reise in die Ehe!" Tante Ingeborg und ihr Mann hielten sich entsetzt an den Händen und erst kurz vor Eschede hatten sie sich erholt und lachten über den Scherz, den sich offenbar Onkel Leo geleistet hatte. Onkel Leo, der Lokomotivführer. Doch in Eschede passierte dasselbe. Nur daß der Stationsvorsteher dies dort kürzer machte: „Wir gratulieren dem frischvermählten Paar (und dann folgten ihre Namen)". Das Paar ahnte Schlimmes, als es in Celle einfuhr. Und richtig: Dort ebenso wie in Burgdorf und Lehrte (der Zug war ein Bummelzug), in Isernhagen und weiter bis zum Hauptbahnhof in Hannover verfolgte sie der Glückwunsch durch sämtliche Lautsprecher sämtlicher Bahnhöfe und damit sämtlicher Stationsvorsteher. Die Tatsache, daß von Eschede an bis Isernhagen immer neue Leute zustiegen und einige davon auch in das Abteil zu hochroten jungen Liebesleuten, die alsbald als das durchgesagte Hochzeitspaar mit Hallo identifiziert und von neuen Glückwunschwellen überflutet wurden, verringerte die Intimität zwischen Tante Ingeborg und ihrem Mann entsprechend weiter. Gefreut haben müssen sie sich aber doch, die Brautleute. Im Nachhinein. Sonst würde diese Geschichte nicht auf der Goldenen Hochzeit heute so wichtig geworden sein. Die Geschichte aus der letzten Zeit, als man die Lautsprecheranlagen der Bundesbahn noch für (gute) private Kommunikation mieten konnte.
28. Mai 1991