Japanisches
Im Gegensatz zu mir bereitet sich Alexander immer sehr sorgfältig auf Reisen vor. Er studierte beispielsweise acht Sommerwochen lang Text- und Bildbände für seine einwöchige Herbstreise nach Venedig. Alexander paukt jedes Mal Sprachformeln in der jeweiligen Landessprache fleißiger als seine Gören die Fremdsprachen in der Schule. Mit einem Wort: Alexander ist bedrückend gebildet und ich unterhalte mich ungern mit ihm über meine Reisen, weil ich gegen ihn ein Banause bin. Bisher. Nun muss, soll ich nach Tokio. Kongress, Klinikbesuche, Empfänge usw. Na ja, ich muss nicht nur und soll nicht nur hin. Es ist zweifellos jetzt schon lehrreich, was ich mit Alexanders Hilfe derzeit vorher lernen muss (denn natürlich kennt Alexander, der gebildete, Japan schon lange und gut). Zwangsläufig muss ich mich seiner Hilfe und der Hilfe schlauer Bücher bedienen, weil ich diejenigen nicht auf die Knochen blamieren soll, die ich dort repräsentieren soll. So bringt mir Friederike derzeit das Essen mit den Stäbchen bei und ich übe damit den Weg vom Teller zum Mund, der umso endloser scheint je krümelhafter das Essen ist, das ich transportieren soll (Reis zum Beispiel). Mit Grünkohl und Bratkartoffeln geht es schon. Schwieriger ist - laut einem schlauen Buch und der nachdrücklichen Nachhilfe vor Alexander, der das alles weiß die Sache mit dem Händeschütteln. Ich schüttele so gerne und lange. Die Japaner aber nur ganz kurz. Von wegen bedrängender Körperherzlichkeit, die dort vermieden werden soll. Ähnlich ist es mit dem Blickkontakt. Ich liebe Blickkontakte und habe außerdem in allen meinen Trainings gelernt gerade den Blickkontakt (aus-)zu halten. Nichts damit: Ich soll nur flüchtig das japanische Auge streifen und dann weggucken alles andere ist aufdringlich. Oder: Bei der hohen Ehre, von einem Japaner privat eingeladen zu sein (ich werde die Ehre haben) - da soll ich bloß nicht besondere Freude an einem Bild oder Besteck oder einer Vase oder einer CD zeigen. Weil der japanische Gastgeber dies als Appell auffaßt, es mir schenken zu müssen. Ich übe also seit einiger Zeit und je länger ich übe desto mehr schwindet mein bisschen Vorfreude. Bis heute. Heute telefonierte ich mit Yasuji Murai in Tokio. Mein künftiger Dolmetscher dort drüben (bei dem ich auch eingeladen bin). Ich klagte ihm meine Probleme. Mit Blick, Händedruck, Zurückhaltung, Stäbchen. Und Yasuji? Yasuji lächelte. Ich bin sicher, daß Yasuji am Telefon gelächelt hat, obwohl man Lächeln nur schlecht hören kann. Bei Japanern geht es aber. Denn nach meinem Jammern lächelte Yasuji, dabei sprechend, er sei sehr froh, mich üben zu wissen. Denn er übe auch sehr fleißig: Langes Handschütteln west-europäischer Hände, langanhaltende Blicke in westeuropäische Augen, fleißiges Loben von Krawatten und Gepäckstück-Moden und Accessoires Und außerdem lägen in manchen Restaurants auch Löffel neben den Stäbchen. Es geht mir gut seitdem. Sehr gut. Man stelle sich vor, Yasuji und ich hätten uns nicht ausgetauscht: Wir stünden jeweils mit dem Verhaltensrepertoire der anderen Seite ausgerüstet voreinander und würden uns ständig beleidigen. Ich habe Alexander erzählt, wie das da drüben für mich sein wird. Und daß ich nicht mehr (derart) üben will. Alexander findet mich jetzt wieder ungebildet. In Sachen Reisevorbereitung.
28. Januar 1997