Stern-Stunden (II)

Eine hohe Schule ist dieses Graubündener tiefe Tal, an dessen Hang wir, wie schon vor zwei Wochen beschrieben, diesjährige Stern-Stunden erleben. Eine hohe Schule in Kleinigkeiten und daraus weitere Lehr-Beispiele: Frühes Frühstück gegen 11.30 Uhr. Das Fenster steht offen zur Ochsenalb gegenüber und meine Seele auch. So lange, bis in der Ferne ein Motor tönt, der weder zu einem Traktor noch zu einer Mähmaschine passt, noch zu einem der im Wochendurchschnitt drei Autos, deren Touristen-Lenker sich hierher für kurze Zeit verirren. Das Motorgeräusch nähert sich, und wir entdecken den Hubschrauber keine 100 Meter entfernt er fliegt nahe unseres Hauses die Schlucht entlang, und ich weise die drei Frauen auf diese Besonderheit hin. Alle drei sagen netterweise ein „Ah" oder „Oh" oder „O ja!" - obwohl jede den Hubschrauber ebenso sieht wie ich. Es ist befriedigend, die Sensationen dieser Welt beschreiben, anderen erklären und damit verarbeiten zu können. In diesem Fall einen Hubschrauber auf seinem einsamen Schlucht-Flug, noch dazu in einer Flughöhe, die eigentlich eine Flugtiefe ist, unterhalb vom Betrachter. Mit diesem erhebenden Gefühl frühstücke ich weiter, als sich der Hubschrauber erneut nähert. Diesmal lehne ich mich nicht aus dem Fenster wie die anderen - ich kenne ja die Welt da draußen. In meine beruhigenden Gedanken mischt sich Christines Stimme vom Fenster, die da sagt: „Da fliegt eine Kuh." In guten Zeiten bewundere ich das Gleichmaß in Christines Wesen, zum Beispiel bei Katastrophen wie zerbrechendem Geschirr oder unangemeldeten Gästen. In schlechten Zeiten macht sie mich wahnsinnig mit derselben Ruhe, mit der sie echte Sensationen behandelt wie ein liegen gebliebenes Bonbonpapier. Denn es war Wirklichkeit, was sie beschrieb. Der Hubschrauber dröhnte an uns vorbei diesmal über unseren Köpfen. An seinem langen Seil baumelte in einer riesigen Lederschlaufe in Sichthöhe die Kuh. Die Kinder juchzten, und ich brüllte. Wir hatten noch nie eine fliegende Kuh gesehen. Einsam und vom Schock stocksteif baumelte sie an uns vorbei und verschwand in Richtung Tierarzt. Das passiere hier öfter, lernten wir nebenan bei Testers, daß eine Kuh sich in eine unzugängliche Region verirre oder abstürze und dann von der Rettungswacht befreit werden müsse. Und doch war das Motiv der fliegenden Kuh vertraut. Marc Chagall, mein Lieblingsmaler, hatte die Kuh, Symbol für seine Liebe zu den Frauen, auch überall hingemalt: in den Nachthimmel, auf das Dach einer Hütte...Sie bringt mich zurück, diese Welt im Tal, zurück zu mir. Ähnlich wie ich lerne, Prothesen, also Ersatzmittel, nur dann zu brauchen, wenn ich sie brauche, lerne ich, allein voranzukommen. Ohne Prothesen wie tragbarem Fernseher oder CD- Anlage, deren Unterhaltungswert nichts ist im Vergleich mit dem Unterhalt, den dieses Tal gibt. Allein voranzukommen wie über jene Gebirgsbäche, vor denen ich stand und grübelte, wie hinüberzukommen wäre. Denn es führte kein Steg, geschweige denn eine Brücke mit Geländer hinüber. Nur drei Bohlenbretter lagen am Uferrand. Wieder brauchte ich einen Lehrer, der mir zeigte, wozu die Bretter am Rand eines brückenlosen Baches dienen: Zum Brücken bauen von Felsplatte zu Felsplatte, von der aus man die rückliegenden Bretter nachzieht, um sie nach vorn zum nächsten Felsvorsprung zu legen. Als Brücke zu einem anderen Ufer. Und als Brücke zu einem anderen Zeitempfinden. Ist dies das neue Zeitwissen, zu dem uns die neuen Physiker mahnen? Weil sie inzwischen lernten, daß es keine wirkliche, absolute Zeit gibt - weil die wirkliche Zeit, die eine Uhr angibt, nicht wirklicher ist als die, die verstreicht, wenn eine Kerze herunterbrennt oder ein Reisgericht gargekocht wird. - Stern-Zeiten hier, in denen noch so die Zeit gemessen wird. Und eine hohe Schule...

27. August 1991