Ver-rückte Verrückte
Diese Nacht zwischen Rosenmontag und Dienstag ist immer kurz für die Seeräuber, Zirkusdirektoren, Clowns, Mädchen aus den Golden Twenties und Großmütter von der Jahrhundertwende. Ob der Abend nun einlud zu Karneval oder Fasching, zu Fasnacht oder Rosenmontagsball die verschiedenen Namen sind Ausdruck der verschiedenen Schichten, auf denen ihre Geschichte gründete - aber auf allen Veranstaltungen dieser Art verkleiden sich Menschen, rücken aus ihrem Alltagskleid aus - in ein verrücktes hinein, sind für einige Stunden verrückt. Zu Klaus passt - finde ich glänzend diese glänzende Uniform der K. u. K. Monarchie, in der er nicht einfach kommt und klingelt, sondern wahrlich auftritt. Klaus' Urgroßvater war wirklich noch preußischer Junker und wäre das insgeheim wohl gerne auch, aber die Zeitläufe machten ihn zum basisdemokratischen Philosophie-Assistenten. Einmal im Jahr kann er seine insgeheimen Seiten verkleidet zeigen. Oder Anne, die als süße, erotisierende Großmutter der Jahrhundertwende kam, mit Kissen zwischen Rock und Po und Spitzenblüschen, Gold und Handschuhen Anne ist normalerweise, SO kannte ich sie bisher, ein schrecklich scharf denkendes und besonders Männern gegenüber kratzbürstiges Weib, das für Alleinerziehung ohne Männer ist und gegen jede Weiblichkeit, weil die von der Werbung ausgenutzt würde. Offenbar dachte ich daneben, denn Anne zeigte in ihrer Rüschen-Herrlichkeit, pardon: Rüschen-Fraulichkeit weit mehr Entzückendes als nur ihr Dekolté, von dem wir Kollegen bis zur Fasnacht gar nicht ahnten, daß sie eines hat. Nein, Anne war umwerfend lieb und zärtlich und anschmiegsam, „kuschelig" - wie sie sonst mit vorwurfsvollem Ton sagte, wenn sie eine Studentin daraufhin wies, daß diese wohl in den Dozenten verliebt sei. Dann war da der Inspektor vom Rechnungshof - eine beeindruckende Personifizierung seiner Institution. Sonst. Sonst ist er nämlich knall-nüchtern mit seinen Zahlen, monoton in seiner Stimmlage und ein Roboter in Sachen Gebärdensprache. Sonst. Zum Rosenmontagsball kam er als Mittelding zwischen Clown und Pierot, auf jeden Fall kam er und blieb den ganzen Abend dauerhaft komisch bis tragikomisch und brachte uns zum Weinen - vor Lachen. Und umgekehrt. Und daß er das schaffte in seiner Art, sein Kostüm zu füllen - das mag daran liegen, daß Lachen und Weinen, Heiterkeit und Trauer wohl doch auch in ihm dichter sind, Verwandte 1. Grades, die voneinander abhängen, einander bedingen. Ich? Ich wollte - ganz, ganz früher - einmal Dirigent werden und dreiviertel habe ich es auch geschafft. Seit mir das letzte Viertel fehlt - gehe ich auf Karnevalsfeste als Zirkusdirektor. Und ziehe den Frack dabei an, den ich beim letzten und einzigen großen Konzert vor 20 Jahren trug. Heimliche Grüße von der versteckten Seite...Es gibt ganze Feste unter einem Zeit-Thema „Biedermeier". Was sagt der Kollege von der Psychologie zu ihm: „Na, Alexander pflegst Du Dein Nostalgie-Syndrom?" und Alexander nickte. Er steht dazu, daß er lieber im Biedermeier gelebt hätte und unter dem Heute leidet. Seine Töchter sind Punker (nicht zur Fasnacht), sein Sohn ließ sich in Jeans trauen. Einmal jährlich macht sich Alexander die Welt, die er nicht hat. Da braucht man nicht erst den alten C.G. Jung mit seiner alten Psychologie und nicht moderne Psychotherapien, die Patienten ihre verrückten Seiten im Psycho-Theater spielen lassen - da brauchen wir nur mehr Ver-Kleidungsmöglichkeiten, um unsere Schattenseiten in das rechte Licht rücken zu dürfen. „Deine Großeltern kannten,“ erzählte Tante Gertrud, „den C.G. Jung aus Zürich, nicht näher, aber sie kannten sowohl die Kinder um sich, die Kinder in sich und einige ihrer ver-rückten Seiten.“ Und deshalb - erzählte Tante Gertrud weiter hatten sie ganzjährig in der großen Kiste auf dem Dachboden lauter Sachen zum Verkleiden, zur täglichen Faschingsmöglichkeit, zum täglichen Verrücktsein-Dürfen. Ab heute gibt es eine solche Kiste auch bei uns. Alte Kleider, die für andere Ver-Kleider sind. Gegenstände des Alltags, die zu Requisiten werden. Wir gründen diese Kiste für die Kinder um uns. Und die in uns.
27. Februar 1990