Um den Baum gewickelt...
Sie kam mit rotgeränderten Augen aus der Schule zurück. Zum ersten Mal in ihrem schon längeren Lehrerinnen-Leben. „Nicht unseretwegen," versuchte Christine mich zu beruhigen. Aber es war schließlich doch auch meinetwegen, weil ich mit ihr zwei Kinder in diese Welt setzte. Was war geschehen? Was nahezu zweiwöchentlich in dieser Zeitung steht. Der Bericht über den tödlichen Autounfall eines jungen Menschen. Er wurde am Vormittag in Christines Kollegium bekanntgegeben. In der Nacht war der 20jährige Sohn eines Kollegen tödlich verunglückt. Die Klassen der beiden Schulen, in denen der Vater Unterricht gehabt hätte, brauchten an diesem und den nächsten Tagen Versorgung. Es wäre sinnlos, weil aktionistisch, anlässlich eines solchen neuen jungen Todes über die Eignung oder Nichteignung der einzelnen jugendlichen Todesfahrer beziehungsweise ihrer Altersstufe zu reflektieren. Über ihre Mitschuld, ihren Leichtsinn. Darüber, ob es Nachtfahrverbote für junge Führerscheininhaber geben soll (wie einige Verkehrs- oder psychologen fordern) streng gedrosselte Geschwindigkeitsleistungen (wie in USA durchgesetzt). Seit es Menschen und Jugend gibt, gibt es außer Mut auch Über-Mut und elend viele Sprüche darüber, die besonders Jugendliche in der Ablösungsphase am wenigsten von denen hören wollen, aus deren Abhängigkeit sie sich ja gerade befreien. Von uns Eltern, Älteren. Abgesehen davon, daß jugendlichem Über-Mut auch bei uns sogenannten gereifteren Erwachsenen ebenso unverantwortlicher Leichtsinn folgen kann, weil auch unter uns oft mehr scheinbar verantwortungsvoll ein Auto geführt wird, als der Schein des Führerscheins ausweist. Wir angeblich Autoführungsreifen Ausgewachsene produzieren in der Verkehrstoten-Statistik beim Zigarettenanzünden oder Autotelefonieren, beim Fahren mit Alkohol oder Tabletten oder Übermüdung nicht weniger furchtbarer Zahlen von Toten oder lebenslang Verletzten. All diese Überlegungen helfen in nichts dem jeweils unvorstellbaren Leid der hinterbliebenen Mütter und Väter, nichts den Verwandten, Freundinnen und Freunde und Kollegen, nichts den früheren Mitschülern und Lehrern. Nichts davon hilft bei dieser vielleicht härtesten aller Trauerarbeiten: Um das eigene Kind. Der Unfalltod eines jungen Menschen im eigenen Umfeld löst in diesem und bei anderen Eltern solcher führungsbescheinigten Kinder jene Angst aus, die Christine und viele andere an diesem Vormittag verheult aus der Schule kommen ließ: Die Angst und die Wahrscheinlichkeitsrechnungsergebnisse, daß da auch bei uns nachts ein Polizist klingelt...Ob da eine Prävention, eine Prophylaxe gegen Unfalltod hilft, von der ich aus Japan gehört habe? Dort gibt es (wie in USA) bereits „Elternwaisen- Selbsthilfegruppen". Entsprechend den Hilfen für „Scheidungswaisen" (Kinder, von einem Elternteil und dem Elternpaar nunmehr verlassen) werden Selbsthilfegruppen von Eltern aufgebaut, die von ihren unfallgetöteten oder toterkrankten Kindern verlassen wurden. Wird der Verlust in solcher Gruppe „ertragbarer"? Ich glaube nicht. In japanischen wie amerikanischen Schulen geht man derzeit über, entsprechend den Schreckensfilmen Raucherbeinen und schwarzen Lungenflügeln gegen das Rauchen, auch Filmmaterial in Diskussionsrunden zum Thema „Ich habe bald meinen Führerschein!" einzubringen. Nicht nur Panikmache löst das aus, wie ich höre, sondern durchaus Betroffenheit bei den erwachsenen Jugendlichen, die in Vorsicht gegenüber den PS unter der Haube münden kann beziehungsweise noch besser: Vorsicht gegenüber den eigenen Affekten. Denn die sind es, die uns überholen und damit um Bäume wickeln lassen, deren Holz eigentlich für die Särge viel späterer, „normaler" Tode wuchs. Für amerikanische Fahrschulen sollen diese „Konfrontationen mit den Folgen des eigenen Unfalltodes" bereits psychologisch besser aufbereitet worden sein, als es eine deutsche Kolumne je kann. Die Menschen in der Umgebung unserer jüngsten Unfalltoten können eben nur dies: Sich wieder einmal von der eigenen Verlust-Angst und dem Mitgefühl für andere anrühren lassen. Bis zu hoffentlich eigenen Tränen.
27. Januar 1998