Advents-Feier-Risiko

Im Neubautrakt nebenan sollte die Kollegin Frau Dr. Karla Schwarzmaler in Zimmer 109 am sichersten vormittags zu erreichen sein. Sie kann zwar nichts für ihren bürgerlichen Namen, die Karla Schwarzmaler, aber sie kann ja trotzdem mitwirken in der Adventsfeier nächste Woche, dachte ich, denn Frau Dr. Schwarzmaler trägt außer ihrem deprimierenden Zivilnamen noch einen strahlenden Künstlernamen. Sie ist nämlich - nein, nicht bildende Künstlerin sie ist Sängerin, genauer: Altistin. Wenn sie das ,,Schlafe mein Liebster" aus dem Weihnachtsoratorium des J. S. Bach singt, das in den nächsten Wochen wieder für reißenden Umsatz in den Gefühlen der Zuhörer sorgen wird, dann - das sagen ihre Kollegen verflache beim Zuhörer der Atem, erweiterten sich die Pupillen und der Muskeltonus sinke. Ich wartete geduldig vor Zimmer 109, denn die rote Lampe leuchtete neben dem Türgriff, was bedeutet, daß Karla gerade Unterricht gab, und der ist heilig. Außerdem wartete ich geduldig, weil ich schließlich Karlas Auftritt in der Adventsfeier kostenlos erbetteln sollte. Zugunsten einer Spende für die neue Mensa. Unterricht ist in dem Flur nicht nur an den roten Lampen zu sehen, sondern auch zu hören: Wenn die Partien vom piano zum mezzoforte wechseln, und einen solchen Wechsel hörte ich soeben. Die Singstimme hinter der Tür zu Zimmer 109 tönte erst zart, fast zärtlich, dann zunehmend kräftiger. Ich sann der Melodie nach und erinnerte mich an das alte englische Weihnachtslied, das drinnen erblühte. Es würde gut in die Adventsfeier nächste Woche passen, dachte ich und genoss den Gesang. Aus meinem Genusszustand wurde ich jäh durch einen Schrei gerissen, in dem sich für mein wehrloses, unvorbereitetes Ohr und meine offene Seele Urknall und Urschrei mischten. Es war ebenso kurz wie grauenvoll, was da aus 109 scholl. Vokale und Konsonanten, Rülpser und höhnisches Gelächter schwangen sich durch die Doppeltür. Dann begann ohne weiteren Übergang die Melodie aus dem alten England erneut zu wachsen, brach wieder ab und wieder dieses höllische Stimmen-Inferno. Ich erinnerte mich dunkel: Stimmbildung! Karla war berühmt für ihre Stimmbildungsübungen. Sie ließ ihre Studenten die Stimmbandverschleimungen oder Atemstörungen, Köperhaltungsfehler oder psychische Stimmungen mit Stimmübungen ändern, die normale Menschen in die Flucht schlagen mit internationalem Erfolg. Ich dachte beim Sammeln meiner sieben Sinne plötzlich nicht mehr an die Adventsfeier nächste Woche bei uns, sondern an die unzähligen Feiern land- auf, landab im heimatlichen Kreise Uelzens. Ich dachte an die Festtage und die Messer- schneide, auf der die Stimmungen ebenso jäh umkippen können wie das altenglische Melodie-Paradies in menschliches Stimmen-Chaos. Die nächste Dauerfestzeit kann umkippen von Fest und Feier zu Streit und Krach...,,Was machen Sie denn hier?" hörte ich die weiche, leise, tiefe Stimme von Karla, die inzwischen in der geöffneten Tür von Zimmer 109 stand. „Auf Advent einstimmen," murmelte ich unklar und nahm mir vor, meine Erwartungshaltung zu verringern. Es muss ja nicht ein mehrere Wochen dauerndes Fest der Liebe werden müssen. Es reichen ja auch festliche, feierliche Augenblicke. „Bescheiden sind Sie auch nicht gerade", sagte Karla, als ich sie um den kostenlosen Auftritt anbettelte. Von wegen der neuen Mensa.

26. November 1991