Polly

Polly begegnete mir während der jetzt zu Ende gehenden Ferien - in den Wissenschaftsspalten der Ferienzeitungen. Sie machte mir klar, daß nicht nur die Ferien sich dem Ende nähern, sondern auch das Ende aller kleinen Unterschiede zwischen Menschen und Schaf. Polly ist ein neues Schaf, genauer ein Kunstschaf, mindestens aber ein konstruiertes, wenngleich sehr lebendiges Schaf. Es ist ein Verwandter ersten Grades des Schafes „Dolly", das Wissenschaftler der schottischen Gentechnik-Firma PPL im März der Weltöffentlichkeit vorstellten. Dolly machte damals Schlagzeilen, weil es das erste geklonte Schäfchen aus der Zelle eines erwachsenen Schafes wurde. Polly nun, Dolly's Geschwister oder Cousine (die genealogischen Begriffssysteme für geklonte Lebewesen hinken hinter deren Produktion noch erheblich nach) Polly also ist auch ein Superschaf, ein Schöpfungsakt, ein erstes Schaf, nämlich jenes, mit welchem die Klonierung menschlichen Erbgutes geglückt ist. Das Menschliche an diesem Erbgut ist ein bestimmtes Protein, das Polly zugunsten der Medikamente für uns Menschen bereitstellt. Pollys Schafsmilch mitsamt dem gewünschten menschlichen Protein könnte der Therapie von kranken Lungenemphysemen in uns Menschen helfen. Soweit die Wissenschaft. Nun die Philosophie: Wir sind also auf dem Wege, genauer unsere Schafe sind auf dem Wege, unsere Zukunft, mindestens die unserer Lungen, sichern zu helfen. Endgültig begreife ich nun die schöpfungsgewollte Verwandtschaft, die sich immer schon zwischen Menschen und Schaf dadurch zeigt, daß Menschen sich untereinander mit Schaf anreden. Ich begreife weiter die vorauseilende Weisheit unserer alten Kunstmaler, besonders die des 19. Jahrhunderts, die als Symbol für menschliche Führerschaft und Gefolgschaft immer einen einzelnen Menschen und um diesen herum Schafherden malten (z.B. Jesus und seine Anhänger). Das waren also alles Bilder ferner Zukunft, die wir jetzt erleben. Das waren also Ahnungen von der Partnerschaft zwischen Menschen und Schaf, bei der der erste abhängig vom zweiten ist, nicht, wie wir bisher glaubten, umgekehrt. Nicht zuletzt begreife ich, daß unsere Heidjer-Motive von Schäfern und Schafen Vorboten hochwissenschaftlicher Teams sind, in denen der Schäfer sich schützt durch Schafe und nicht umgekehrt. Auf einem Bild meiner Kindheit, im Pfarrhausbüro bei Großvater in Celle, klettert Jesus im Hochgebirge in einen grausam wilden, dornigen Abhang am Rande des Abgrunds. Um ein Lämmchen zu retten, wie ich lernte. Und das Lämmchen sei ein Bild für uns Menschen, fügte meine Mutter nüchtern hinzu, die sich auch nicht gern als Schaf sah. Dank Dolly und Polly ahne ich nun, daß Jesus wahrscheinlich wusste, was ein transgenes Schafwesen ist und welche Bedeutung es hat für uns. Was mich nur irritiert ist, daß Polly natürlich nur weiblich sein kann. Wegen der Milch und der sie produzierenden Milchdrüsen, die jenes Medikament transportieren. Diese Klonierungen brauchen uns Männer nicht mehr. War es Fingerzeig Jesu und unser Heide-Wunderschäfer und der Kunstmaler von Jesus damals, daß die Zukunft ausschließlich vom (geklonten) Weiblichen getragen werden wird? Diese Ferien gehen zu Ende - so gewiss wie offenbar die Zeit der (natürlichen) Männer.

26. August 1997