Vom König und der Maus

Auf den ersten Blick sah ich nur sie. Erst auf den zweiten ihn, der neben ihr stand. Und dies, obwohl er doppelt so lang war wie sie. Sie hingegen ging in die Breite: Links und rechts vom eigentlichen Kernkörper ragten bordeauxrote Radkästen vom Hinterrad weg wie Flügel bei einem Flugzeug. Man konnte picknicken auf diesen Flügelflächen. Bordeauxrot der Lenkerschutz und das Beinschild, das ich sonst nur von schweren Motorrollern erinnerte alles, rot metallicrot. Auf dem Tank Knöpfe, Schalter, Digitalanzeiger, mittendrin ein zuklappbarer Aschenbecher. Das war kein Motorrad: Das war eine Erscheinung, eine Höllenmaschine in ihrer Pracht, chromverbunden die metallic-bordeauxroten Flächen, die kleinste Ecke abgerundet mit Chrom, der im Glänzen konkurrierte mit dem Glanz des Ganzen und aller Details. Der Fahrersitz aus echtem Leder, der Soziussitz ging hinten hoch wie ein Lehnsessel. Es fehlte nur die Lehne, doch dafür ließen sich die Füße auf diesem Motorrad abstellen. Auf zwei kleinen Teppichen, von denen ich ohne weiteres annahm, daß sie Reste echten Persers waren. Der Mann stand neben diesem funkelnden Schloss auf zwei Rädern und trug sich wie Schlossbesitzer sich im Märchen tragen: stolz, unnahbar, steif. Ich ging an ihm vorbei zu der Raststätte und hatte Zeit, diesen König der Landstraße von ferne weiter zu betrachten, denn die Schlange vor der Essensausgabe war lang und die Raststätte rundum verglast. Und jetzt begriff ich, was mir außer dem Schloss auf Rädern und seinem danebenstehenden König, was sage ich, seinem Kaiser beschäftigte. Es war die Stummheit, diese merkwürdige Zone des Schweigens um diesen Mann und seine Erscheinung. Die Leute starrten fast alle auf ihn. Wie ich. Sie betrachteten seine Maschine. Wie ich. Nämlich aus Entfernung. Und er wandte seinen Kopf und drehte ihn langsam rundum in Richtung der Spähenden, der Gaffer, der von Ferne diskutierenden Fachleute, zu denen ich gehörte. Mit Bratwurst und Pommes Frites auf dem Pappteller ging ich zurück und fasste mir ein Herz. Kaum daß ich deutliche Zeichen meiner Annäherung an seinen Platz gab, bewegte sich der Mann und begleitete mich mit seinem Blick bis ich neben ihm stand. Er war vielleicht Mitte fünfzig, hatte graues Haar und dicke Augenbrauen über seinen schmalen Augen. Irgendetwas hatte ich gesagt - ich weiß nicht was, ich vermute, etwas über dieses rollende Schlachtschiff. Jedenfalls ging er ohne Übergang, ohne verbindende Worte in die Knie buchstäblich. Er begann mir seine Maschine zu zeigen. Er begann zu sprechen zu den Gegenständen, auf die sein Finger zeigte: die Zylinder, ihre Verkleidung. Seine Sprache beschleunigte sich, als er mir seine HiFi-Anlage zeigte, deren Leitungen sich unsichtbar durch die Metallkörper zogen und oben, auf dem Lenker montiert, in zwei Lautsprecherboxen mündeten, die ihre Sounds aber auch während der Fahrt in einen Walkman umlenken konnten. Bis zu 140 könnte er Musik noch gut hören, erzählte er, die Maschine selbst mache 245 Kilometer pro Stunde. Sein Sprechtempo steigerte sich immer mehr, als er mich herumführte. Einmal fasste er mich am Hemd, um mich herunterzuziehen und mir ein von oben nicht sichtbares Detail zu zeigen, wobei mein Bratwurstrest vom Pappteller fiel und eine Fettspur auf dem Motorrad hinterließ. Ohne sich im Reden zu unterbrechen, zog der Mann ein Staubtuch, wischte blank, was fettig war und hörte nicht, wie ich das erste Mal sagte, daß ich jetzt weiter wolle. Ich sagte es noch zweimal. Dann erst verstand er und schloss seinen Mund. Ich hatte das Gefühl, er war mir böse, daß ich die Zeit begrenzte. Als ich vom Parkplatz herunterfuhr sah ich ihn nochmals: unnahbar und aufrecht neben seinem Schloss. Und die Leute gingen an ihm vorbei. Zu sicherer Entfernung. Wie war das doch mit der Maus, die sich im dritten Stock in ihre Badewanne legte und das Wasser laufen ließ, so daß es schließlich durch den Boden tropfte. Dann bis hinunter in den Flur, schließlich auf die Straße? Immer wieder schrien die anderen Mäuse, daß sie endlich das Wasser abstellen solle, aber die Maus ließ das Wasser weiterlaufen. Die ganze Straße voll. Bis eine Maus endlich schrie: „Liebe, liebe Maus, sei so gut und stell ab, denn du bist jetzt die sauberste und appetitlichste Maus, die ich kenne!" Da erst stellte die Maus das Badewasser ab und trocknete sich.

26. Juni 1990