Sissy und die Mücken

Dies ist ein Abgesang - auf die Sommerferien 1992 und Sissy. Wie wir sie bisher in unserer Vorstellung pflegten. Bis zur Rückreise über Wien, von der uns auch Uelzener Schulunzeiten noch nicht ablenkten: Unsere Eltern tranken sie bereits, die Romy und den Karlheinz bzw. die Sissy und ihren Franzl, als Nektar ihrer Jugend. Und wie unsere Alten, so soffen auch wir Jungen die dreiteilige Romanze noch rechtzeitig und kurzfristig vor den aufklärenden 68ern, die uns lehrten, was für einen Schmarrn wir aufgesessen, was für eine Historienverfälschung, was für einem blöden Kitsch wir knapp entronnen seien...Und dennoch - Sissy bzw. Romy überdauerte irgendwie unsere Erziehungsgegenwart und Sauklugheit, denn die drei Filme gibt es immer noch. Ständig und ewig abrufbar, weil es Video gibt. Auch noch die eigene Brut von uns schlauen Eltern von heute bricht in den patriarchalen Sumpf des Wiener Film-Hofes ein. So daß auch heute noch eine Wien-Reise nicht möglich ist, ohne dass Sissys Geist bzw. Film-Ungeist Theater macht. So daß wir nun endlich auf den Parkwegen von Schönbrunn wandelten, auf denen wir Sissys Präsenzrest fühlten. So daß wir nun an ihrem Schlafgemach lüstern vorbei lustwandelten, wo sie Träume litt. So daß wir im Fiaker durch Wiens Gässchen schaukelten und die Hofkutsche unter uns fühlten, während nebenbei die niederen Touristengattungen an unserer inneren Hofkutsche vorbeidrängten und gar nicht verspürten, wer da in wessen Geist an ihnen vorbei fuhr, Wir nämlich wir Sissy-Fans, von denen aber nur noch Friederike mit ihren 10 Jahren offen dazu stand, während wir drei Heranreifenden in die Ironie flüchteten. Denn nichts konnte in dem Filmepos gestimmt haben! Oder gab es irgendeine Szene, in der sich Romy draußen im Park wildfuchtelnd gezeigt hat, weil eine dieser zahllosen Mücken-Myriaden sie überfielen? So wie uns geschehen und sicher immer schon Sissy geschehen. Oder gab es nie jene Sanitärprobleme bei dieser Hitze, in der wir das Hotel besuchten, in dem Sissy nachweislich laut Messingtafel auf ihren Wegen nach Budapest abgestiegen war und das doch sicherlich damals nicht besser schallisoliert war als heute? Jedenfalls hörte ich jedes Toilettengeräusch aller vier Stockwerke über uns und das ausgerechnet dort, wo Sissy die einzigen wirklich heimlichen und lieblichen Liebesnächte genossen haben soll. Es kann nicht sein. Wir sind auch mit jenen Szenen betrogen worden. Jetzt erst ging mir der Betrug auf: Keine einzige Realität im Film von den Realitäten, mit denen wir zu kämpfen hatten: Keine Mücke im Schlafzimmer, auf die man mit der Klatsche in der Hand harrt, um letzte Schlafqualitäten zu retten. Keine saure Milch in Sissys Kaffeetasse, dafür zweimal in unserer. Kein Schweiß unter den Achseln des Geliebten bei Romy, wenn er sich vom Ritt heimkommend über sie beugt. Ich hingegen muss unter die Dusche bevor ich auch nur Nähe suche. Keine Strapazen auf Sissys Reisen, außer den psychischen. Kein Wolkenbruch, der die letzten trockkenen Sachen ungenießbar macht und bei Franzl nie Tomatenketchup auf der weißen Hose (bei mir auf jeder zweiten...). Alles Schmarrn in diesem Kitschfilm. Und der Tag in Wien endete wie erwartet: er war wunderschön für Friederike und bedrückend für uns Altfans Mitte vierzig. Sind wir auf den Leim gegangen - wie jene Fliegen es nicht taten, denen wir Fallen stellten? Und doch wieder in Uelzen und im Komfort der eigenen Räume. Wohin eilen die Kinder, was holt sich Christine aus dem Bücherschrank? Die Kinder wollen Video-Sissy wiederholen und Christine liest die Geschichte von Elisabeth II. aus seriöserer Quelle. Sissy verlässt diese Frauen eben nie. Und deshalb fühle ich mich allein in meiner Reife, in der mich an den Arbeitstisch setze und eine Überweisung für das Hilfswerk von Karlheinz Böhm in Äthiopien ausfülle.

25. August 1992