Trink-Gelder

Ich habe mich an das Geben von Trinkgeldern zuhause im Deutschen so gewöhnt, daß ich mir inzwischen vor jeder Reise mit Hotelaufenthalt entsprechende Münzen in die Hosentasche stecke. Münzen zwischen ein und fünf Mark, je nach der Anzahl der Hotelsterne. (Ich will nicht nochmal so mäßig behandelt werden im Hotel, wie damals in Warnemünde, wo ich dem Jungen, der das Gepäck auf das Zimmer schleppte, eine ein Mark Münze gab und erst an seinem sich kühlt distanzierenden Gesichtsausdruck merkte, daß man dort bessere Kunden als mich gewöhnt sei...) Im letzten Vierteljahrhundert sind mit unserer aller Gehälter auch die Trinkgelder dermaßen gestiegen, daß es mir diese Trinkgeldhosentasche fühl- und sichtbar herunterzuziehen begann. Da mein rechtes Bein ein bißchen kürzer ist, wer ist schon normal -, siedelte ich die Trinkgelder-Münzen auf der anderen, linken Seite an, weswegen ich dank der enorm wachsenden Trinkgeldmenge wieder akkurat gerade sitzende Hose trage. Das ist die eine positive Seite des (deutschen) Trinkgeldes. Eine zweite positive Seite ist natürlich, daß Trinkgelder heute nicht mehr ihrem ursprünglichen Zielbegriff entsprechen. Kaum ein Mensch, der Trinkgelder erhält oder erhalten will, gibt sie wirklich für Getränke aus. Höchstens für üppige Saufgelage, die sich auch nur die leisten können, die gute Trinkgelder erhalten. Trinkgelder Gesammelte werden von denen, die sie sammeln, in Alltagsbedarf wie beispielsweise Zahnpasta investiert. Das Haushaltsgeld für die Frau meines Stammobers in Hamburg (Ehepaar mi drei Kindern) ist von Badezimmer-Kosmetika-Kosten befreit, weil die alle von Vater-Trinkgeld bezahlt werden. Oder Trinkgelder werden zu Abzahlung des neuen Fernsehers oder zur Häufung kleiner (steuerlich gesehen schwarz-farbener) Vermögen gesammelt. Ich habe mich an die Trinkgelder gewöhnt als dauernde Erwartungshaltung, Ich meine die Trinkgelder, die ich gebe und die Erwartung, die meine Gegenüber haben im Restaurant, am Fahrstuhl, beim Gepäckschleppen. Ich meine nicht meine eigenen Trink- und Essensgelder, die den vornehmen Namen „Spesen" tragen und von meinen Veranstaltern und Auftraggebern auf extra Rechnungen mit dem Honorar aufgeführt werden. Wie wir erwarten, daß der andere „Guten Tag" entbietet, so erwarten wir Trinkgelder. Als Gepäckträger ebenso wie als Spesen-„Ritter" (auch und besonders Adel hing - zumindest in seinen Kinderschuhen immer schon mit Geld zusammen.) Doch hier (ich bin nicht zuhause, nicht mal in Europa) bin ich verunsichert. Ich kann mir die Sicherheit der Aufmerksamkeit von Oben, die Muskelkräfte von Gepäck hievenden Taxifahrern und die mütterliche Fürsorge des Zimmermädchens nicht mehr kaufen. Ich bin - ganz schlicht und einfach - auf deren freiwillige Zuwendung angewiesen! Denn hierzulande sagte ich schon, daß ich in Japan bin? - ist Trinkgeldvergabe eine Beleidigung. Richtiger: Es wäre eine Beleidigung, denn keiner versucht es. Sie haben recht, die beiden Reiseführer. Japan hat kein Trinkgeld. Japan, Tokyo zumindest, ist sauteuer. Aber jene Zuwendung kostet nichts, für die es mir zuhause die Hose runterzieht und weswegen sie hier, in Japan, wieder unkorrekt sitzt und ich sie dauernd zurechtzupfe. So wie ich jetzt hier dauernd grübele, ob zuhause etwas nicht richtig sitzt. In Sachen Trinkgeld und Erwartung desselben.

25. Februar 1997