Angeber
„Was ist das nur", lautete die Frage, was ist das nur, dass Ihr in allem allüberall betont, die Allergrößten zu sein?" Es war weniger Frage als Feststellung. Sie kam von Suzanne, einer jungen Schweizerin, die mit anderen Studenten aus der Schweiz in Frankreich mit mir in einem Seminar arbeitete und jetzt den wunderbaren Salat aus Nicole's Schlossküche in Roche s. Linotte mümmelte. Der Genuss des wunderbaren Salats (burgundisches Dressing) verschwand jäh und ich dachte angestrengt nach, wo ich in der letzten Vorlesung das getan haben könnte, wofür wir Deutschen sowohl berühmt sind als auch die Größten: Im Angeben. Hatte ich aus unserer deutschen Forschung erzählt als der größten, besten, erstmaligen? Nein, also dachte ich an unser aller WM-Siege, an Boris, an Steffi. Auch an den Uelzener Kantor Erik Matz dachte ich und seine Kritik an uns, die wir Uelzens Kultstätten und -ereignisse zu oft als weltweit einmalig bejubeln. Und mindestens hoffen, unter den Kleinstädten die Größte zu sein. Nein, Suzanne meinte die große Flut, das Seebeben in Südostasien und seine entsetzlichen Folgen, die Weihnachten und den Jahreswechsel überschatteten und hoffentlich noch lange Schatten werfen. Suzanne meinte, warum wir nun auch beim Spenden so betonen, die Größten zu sein. Mehr als die USA, mehr als Frankreich (das sich klugerweise Grand Nation" nennt, nie die Größte"...). Woher sie dies peinliche Bild von unseren Gaben, in seltensten Fällen wirkliche Opfer-Gaben, hätte? Und dann erzählte Suzanne: Ein scharfer Beobachter der Neuen Züricher Zeitung hatte angefangen, diese Feststellung über uns Deutsche als „Spenden-Größte" zu treffen und fand rasch Nachkommentatoren in anderen Zeitungen, Funk und TV. Auch außerhalb der Schweiz. Da seien sie dann zitiert worden, einige unserer deutschen Politiker. Und in Folge instinktlose Medienvertreter, die das multiplizierten. Das Kopfschütteln, wie wir Deutschen aus dem Entsetzen gegenüber den Bildern aus Südostasien nicht nur Spenden-Kapital, sondern moralisches Kapital schlagen, indem wir unsere Opfer mit anderen beckermesserisch vergleichen. Ich schlich mal wieder davon. Nicht weil ich mich betroffen fühlte von der Untugend des Angebers. Sondern weil ich eine andere schlechte deutsche Wesensart fühlte: Neid. Neid auf die Länder, deren Bürger eine ungebrochene Identität leben. Als Franzosen, Schweizer, Skandinavier, Benelux-Bürger. Die unbefangen ihre Fahnen und Flaggen heraushängen, ihre Nationaltage feiern, ihre Hymnen stolz singen, stolz auf sich als Nation. Weshalb die einzelnen Bürger und Politiker und Medien nicht ganz so angeben wie wir. Wir, die wir - um Horst Eberhard Richter, unseren großen alten Psychoanalytiker, zu zitieren weiter unter der „deutschen Neurose" leiden. Dank jenes allergrößten und See- und Erdbeben weltweit auslösenden Angebers, den wir in der Geschichte von 1933 bis 1945 kennen. Nationen und Einzelne mit ungebrochenem Profil haben keine Profilneurose. Und geben nicht damit an.
25. Januar 2005