Einfach mal innehalten...
Janina, Dorotheas Freundin in Holthusen schreibt im Weihnachtsbrief: „ …echt keine Zeit zum Schreiben an Dich! Wir haben viele Klassenarbeiten geschrieben! Und jetzt kommt die schlimme Zeit! Arbeiten, Geschenke kaufen (selber machen) - nur Hektik...!" Hier endet zwar das Zitat, aber die Ausrufezeichen, die Janina hinter jeden Satz schreibt, wirken noch eine ganze Zeile und Weile weiter: Eine schlimme Zeit! Ich denke an Janinas und Dorotheas Lehrer und Lehrerinnen, repräsentiert durch Christines Freundin Heidelind. Die nämlich antwortet, auf die Vorweihnachtszeit angesprochen, nur mit Zahlen: ,,Fünf Klassenarbeiten - das bedeutet, 115 Hefte nachzusehen, vier Klassenweihnachtsfeiern, zwei Schulweihnachtsfeiern vor dem Fest, über das Fest dann Besuch: Harrys kranke Mutter und ein kürzlich verwitweter Onkel, einer der Spezialdiät braucht - ich kann jetzt schon nicht mehr!" - Eine schlimme Zeit, diese Weihnachtszeit. Bei Heidelindes Weihnachtsklage fällt mir jener Gemeindepastor ein, der so ehrlich war, uns an dem inneren Seufzen teilhaben zu lassen, dass manche Seele unter den Pastoren, Küstern, Kirchenmusikern das Fröhliche mit dem Grauen vor dem Terminkalender verbinden lässt, dessen überlaufende Üppigkeit alle Süßigkeiten-Teller auf dem Gabentisch überflügelt. Zahlen bei einem von denen, die die frohe Botschaft überall verkündigen sollen: Elf Sondergottesdienste und Andachten in der Kirche, 18 Ansprachen in Vereinsfeiern und Heimen und bis heute, Heiligabend, 22 Einzelbesuche bei Alleinstehenden. Die frohe Botschaft wird da leicht zur Routine-Information. Eine schlimme Zeit. Ähnliche Zahlenrekorde bei Kommunalpolitikern und Vereinsvorständen, Gewerkschaftsortsgruppen und Sängerbünden von den überlaufenen Arztpraxen und Kliniken gar nicht erst zu schreiben, zu denen alles rennt, um die Schäden der Adventszeit vor der Weihnacht auszukurieren. Eine schlimme Zeit. - Einerseits. Andererseits sind da die Orte, an denen innere Einsamkeit oder äußere Isolation ebenso wahre Hoch-Zeiten feiern wie die Hektik woanders: Erziehungsheime, Altenheime, Krankenhäuser, Asylantenunterkünfte, Gefängnisse. Deren Mitarbeiter mögen viel Musik, viel Geselligkeit, viel Mühe gegen innere Verkümmerung in ihren Häusern investieren - die seelischen Häuser ihrer Bewohner, Insassen, Klienten, Patienten werden damit nicht sicher erreicht. - Eine schlimme Zeit, in der die einen dasselbe als Übermaß erleiden, was im Untermaß kränkt und krank machen kann: Die längste Fest- und Feierzeit. Wie einfach sich inmitten solch schlimmer Zeit die Oase weihnachtlicher Wahrnehmung erreichen lässt, zeigte mir ein kleiner Knabe im sogar leicht gelockten Haar und um die 18 Monate jung während der Weihnachtsfeier der St. Mauritius-Schule in Ebstorf: Nach dem Ausschütten des Nikolaus-Sackes auf der Bühne (es rollten hundert, zweihundert Mandarinen umher) stürzten sich alle mit Gejohle und Beutegier auf die Früchte. Der Kleine, der in einer Publikumsgasse stand, bückte sich, erwischte eine Mandarine und - roch an ihr, drehte und wendete sie, leckte an ihr, hielt sie ans Ohr, während sich ringsumher die Älteren balgten, während mahnende Eltern zurechtwiesen und der bescherende Weihnachtsmann auf der Bühne hoffnungslos auf Ruhe hoffte. Von dem Kleinen konnte ich lernen. Innehalten heißt sein Geheimnis von Weihnachten und seinen stillen Nächten und Tagen. Einfach hier und da innehalten bei dem, was ich mit der Haut fühle, mit dem Auge sehe, mit der Zunge schmecke, mit dem Ohr höre...
23. Dezember 1991