Vierrad-Christen
Der Normal-Christ ist ein Vierrad-Christ Die neuere Definition dafür ist diese: Der Normal-Christ fährt vier Male im Verlauf des Kirchenjahres (von dem er zum letzten Mal im Konfirmandenunterricht gehört hat) auf den vier Rädern seines zweiten Heimes, des Autos, zur Kirche zum Gottesdienst: Das erste Mal Heiligabend, das zweite Mal Ostern, das dritte Mal Pfingsten und das vierte Mal sozusagen „alternativ", zu freien Entscheidung. Das kann - bei nochmaliger Umsatzsteigerung im laufenden Geschäftsjahr - der Erntedanksonntag sein oder eine der Taufen oder Hochzeiten oder Beerdigungen, bei denen der Kirchenbesuch ähnlich innere und/ oder äußere Pflicht ist wie eben Weihnachten, Ostern, Pfingsten. Die noch ältere Definition: Vierrad-Christen sind die, die vier Male in ihrem Leben zur Kirche rollen: Zur Taufe im Kinderwagen, zu Konfirmation im Auto der Eltern, zur Hochzeit dann im eigenen. Und zu ihrer Beerdigung im Wagen der Bestattungsfirma. Ich bin auf dem besten Wege, zur zweiten Sorte zu gehören. Aber nicht, weil Sigmund Freud meinen Berufsstand der Psychologen und Analytiker belehrte, daß Religion Opium fürs Volk ist. Nein, dieser Grund ist durch Neo-Psychoanalyse, durch Neo-Psychologie und Neo-Theologie nicht mehr so absolut zu sehen. Daß ich immer weniger in die Kirche komme, hängt mit deren Öffnungszeiten zusammen: Wenn die Kirche zu Gottesdiensten öffnet, bin ich in der Regel noch nicht geöffnet. Zu Deutsch: Ich schlafe noch. Oder frühstücke gerade. Ich sehe ein, daß landwirtschaftliche Betriebe und ihr timing für Fütterungszeiten von Vieh und Mensch und Feldflächen den frühen Kirchgang um 9.30 Uhr brauchen. Aber die anderen Menschen wie Du und ich? Offenbar alles Leute, die sonntags auch den Wecker stellen, auch im gewohnten Tempo des Alltags frühstücken. Ich nicht. Ich arbeite - und da bin ich nicht allen, wie ich höre nachts und schlafe deshalb lange. Nur morgens bin ich dann allein, weil die Frauen in der Schule sind. Mit denen zusammen Ausschlafen geht nur am Sonntag. Mit denen zusammen Frühstücken geht nur am Sonntag. Mit denen zusammen ausschlafen, frühstücken im Bademantel und dabei Mau-Mau-Spielen während die dritte Tasse Kaffee dampft, die ebenfalls ein Sonntagsmerkmal ist nur sonntags. Oder gemeinsam eine Schallplatte dabei hören während des Aufwachens oder beim Frühstück - nur sonntags! In diesem Punkt beneide ich die Katholiken - die haben mehr als ein Gottesdienstangebot sonntäglich! Nein, ich bleibe oft vom (evangelischen) Gottesdienst weg, weil der Sonntagmorgen der einzige Morgen relativer ungestörter Familiengemeinsamkeit in der Woche ist! Und ich das Zeitopfer (9.30 Gottesdienstanfang!) für Mutter Kirche genauso unmöglich finde als Prinzip wie das Prinzip von Vater Freud mit seiner Deutung von Religion als Opium. Ich will nicht Opfer geben, die ich nicht gern geben will. Nicht mal Kollekten. Deshalb bevorzuge ich spätere Gottesdienste, die allemal für mich ein guter Ort für theologische wie psychische Einkehr und Weisheit für Meditation und Sinnsuche und- findung bleiben. Und die nur in Gruppe, in Gemeinschaft möglich sind. Gab es da nicht eine Hoffnung? Und nicht erst dadurch, katholisch werden zu können, um breitere Angebote zu kriegen? Doch da ist der hochwürdige evangelische Landesbischof namens Hirschler in Hannover, der es kürzlich wagte, für einen späteren Gottesdienstanfang am Sonntagmorgen und für Nachmittagsgottesdienst zu plädieren. Wenn auch nur in 6 Druckzeilen, die über dpa liefen. Immerhin die dpa, die Deutsche Presseagentur gewann der Meldung des Herrn Hirschler offenbar genügend Sensationswert ab, daß sie die 6 Zeilen brachte. Nur hier in Uelzens Umgebung. da bleibt's wie's ist. Nein - doch nicht? Richtig - in Hanstedt I gibt es vierwöchentlich nachmittags einen Gottesdienst um 17 Uhr. Warum eigentlich nur vierwöchentlich? Warum nur in Hanstedt? Es braucht schon mehr, daß man nicht ein Vierrad-Christ wird.
23. April 1991