Dort wo es tönt

Ich habe noch keine, aber (fast) alle anderen: Mein Zahnarzt, meine Computer-Service-Firma, meine Kfz-Werkstatt. Sie alle haben schon diese nette am Telefon, Zwischenmusik wenn ich mit jemanden verbunden werden will. Und warten soll. Ja, sogar eine Behörde, die mich betreut, berieselt den Anrufenden inzwischen seit neuestem mit Musik, wenn er warten muss. Behörden brauchten immer schon ihre Zeit, bevor wirkliches Kulturgut von ihnen erkannt und integriert wurde. „Kunst auf dem Bau und sowas war da immer schon schneller als die „Kunst in der Behörde". Hier geht es um „Ton-Kunst in der Leitung". Das abgegriffene (und umstrittene) Wort von Martin Luther (dort wo man singt - da lass dich ruhig nieder - böse Menschen haben keine Lieder) ließe sich brandaktualisieren: Dort wo es in der Telefon-Leitung tönt - da kaufe ruhig ein. Da lass dich gern bedienen, da fühl dich ganz geborgen. Denn Musik streichelt, Musik beruhigt, Musik törnt an, Musik ernährt den Menschen - während er an der Leitung wartet und neuerlich nicht einfach hört sondern lauscht. Nun sind wir heute bedeutend weiter als Martin Luther und können bei der musikalisierten Wartezeit psychologisch vorgehen, indem wir hinterfragen: Wer bevorzugt eigentlich welche Musik in seiner Leitung? Welche „Botschaft" verbindet er damit? Zum Beispiel die Firma mit dem Sanitärgroßhandel spielt Mozarts Nachtmusik (wenn auch nur die Hälfte des ersten Motivs) Zufall? Mitnichten. Es bietet sich an, darüber nachzusinnen, ob die Firma die relativ profan anmutende Ware (Waschbecken, Toilettenanlagen, Wannen aller Art) ausgleichen, sozusagen kompensieren will mit diesem Griff in die Wiener Klassik. Oder noch (tiefen)psychologischer: Vielleicht baute das Unbewusste eine der Geschäftsleitung Brücke zwischen den Sanitäranlagen und jenen Geräuschen, die besonders nachts bei deren Benutzung hörbar sind. Nachtmusik eben. Oder jene Behörde (sie hat im weiteren Sinne mit Geld zu tun). Sie spielt - zu meiner Überraschung - eben nicht das Mahn-Lied „Üb immer Treu und Redlichkeit"! Vielmehr überraschen ihre Beamten mit einer (allerdings vom Synthesizer bearbeiteten) Ausschnittmelodie aus „Hänsel- und Humperdincks Gretel". Einmal abgesehen von dem gewissen Konservatismus dieser behördlichen Themenauswahl ist die Selbsterkenntnis, die ich hinter dieser Musikwahl vermute, beachtlich, denn der Verlauf des Inhalts bei Hänsel und Gretel ist ja bekanntlich ein Verlaufen, ein Verirren. Außerdem ist's kalt und rappelvoll mit Beziehungsstörungen zu rüden versorgen. Ganz logisch bzw. psychologisch meldet sich das Heiratsinstitut, durch das ein Kollege von Christine inzwischen erfolgreich kontaktete und wovon er ebenso begeistert wie kritisch-detailliert berichtete (je nach Gefallen an der jeweils vermittelten Frau). Dies Institut lässt die Kund/innen in der Leitung zappeln mit Lara's Thema aus Dr. Schiwago! Allein beim Warten bekäme ich ja feuchte Augen... Wieder eine Überraschung spielt der Anrufbeantworter von Tante Anne (inzwischen 90jährige pensionierte Pastorenwitwe). Dort ist der Song vom „Rum Rum Tugger" aus der Musik von Webber zu „Cats" zu hören. Das heißt, verwunderlich ist das nur wegen der Pfarrfrauenvergangenheit. Ansonsten wissen wir, daß Tante Ulrike unmittelbar hinter dem lieben Gott und ihrem verstorbenen Otto - Katzen über (fast) alles liebt. Bei alledem traue ich mich noch nicht, selbst mit Musik in die Leitung meiner mich Anrufenden zu gehen. Weder auf meiner Privatnummer („Dreimäderlhaus" hatte man mir empfohlen) noch der Nummer in meinem Amtssitz (wohin passen würde „lass doch dem Leben seinen Lauf..."). Geschweige meiner Geheimnummer (etwa „Leise, Peterchen, leise ..."). Was ich auch nehmen würde es würde ausgelegt, interpretiert. Als meine „Botschaft". Da mache ich es lieber bei anderen.

23. Februar 1993