Männliche Überhöhung
Wenn Männer bedeutend sein wollten und wollen - dann verlängern sie sich. Psychologisch heißt das: sich überhöhen. Bis vor kurzem waren es noch Zylinder und Helme. Wer noch höher wollte, trug da oben Helme mit Federbusch. Im Rokoko trugen die Männer, die bedeutenderen, ihre Perücken zu Türmen aufgestockt. Im Barock stieg die Perückenhaarpracht erst nach oben, dann fiel sie in geradezu fraulichen Wellen nach unten und ganz bedeutend sein wollende Männer wie Richter, Anwälte, Geistliche und Professoren trugen dazu Röcke (letzteres bis heute). Heute sind es vergleichsweise Hütchen, aber immerhin...Alexander hat in den letzten 15 Jahren in ein Vermögen investiert - auch ganz oben. In seine Haarpracht nämlich. Den Tipp für die Vermögensanlage hat er von Frau Kirscht, seiner Friseurmeisterin. Die riet und verkauft ihm seitdem eines der teureren Haarwasser. Sie ist daran zwar nicht reich geworden, aber Alexander's Haar wurde es. Sein Haarreichtum ist geradezu reich im Vergleich zu den anderen schütteren Köpfen der Männer seiner Familie und Generation. Jedoch: Während Alexanders Haar sich göttlich gleichblieb, wurde Alexander aber 15 Jahre älter und ist neuerdings sauer. Denn die offizielle Haarmode für Männer tendiert ganz offensichtlich dahin, die bisherige Haarpracht durch ihr Gegenteil zu ersetzen: Haarlosigkeit, Glatzenverwandtschaft oder Vollglatze. Früher kannte Alexander nur Onkel Gerhard aus München und Yul Brunner aus dem Kino als Glatzkopf (der angeblich von besonderer Potenz zeugen sollte). Der große Rest aber pflegte sein Haar als Tracht, als Pracht. Zahllos noch in den 80 er Jahren die Anzeigen für Haarwasser, für Salben, für Haartransplantationen, für Teil- und Vollperücken. Und heute? Alexander ist verunsichert: Seine Kollegen (Alexander ist ja Lehrer) pflegen ihr Haar zunehmend dadurch, dass sie darauf verzichten. Und diejenigen Schüler und Söhne ihrer Väter, die in ihnen ein Vorbild sehen, tun es ihnen nach. Haar- länge 5 mm (durchaus noch bedeckt wirkend), dann 3 mm (man muss schon genauer hinsehen). Oder 1 mm, kurz vor der Glatze, vermutlich eher beim Drüberstreicheln zu spüren als zu sehen. Zunehmend (fast) nackte Schädel je jünger der Mann! Ist es das moderne männliche Bedürfnis der Männer, der zunehmenden Nacktheit der Mädchen um den Bauchring herum gleichzutun? Oder ist die dünn gewordene Haarschicht auf männlichen Schädeln aller Generationen erstes Zeichen, dass Männer mündiger sind und darauf verzichten, sich größer zu machen als sie sind? Alexander sitzt noch auf zwei Reserveflaschen seines Haarwassers und überlegt die Versteigerung bei e-bay. Allerdings erst im nächsten Frühling, denn jetzt kommt die Kälte und Alexander trägt sich noch einmal mutig und höher als er selbst ist. Nämlich mit Hut.
22. Oktober 2005