Wer die Wahl hat...
Schrödere ich nun am Sonntag — oder kohle ich? Oder falle ich dazwischen? Aber nein - es geht doch, wie der politisch halbwegs gelehrige Bürger lernte, am Sonntag nicht um Personenwahl, sondern um Richtungswahl. Was sage ich: Um Schicksal geht es. Um das Ganze. Um Deutschland. Es geht nicht nur um alles in Deutschland. Es geht in Deutschland mal wieder über Alles. Und mir geht's schlecht. Denn ich darf mich nicht zu den politisch Klugen hier draußen im Lande zählen. Ich bin nämlich ganz heimlich doch ein Personenwähler. Und da geht es mir mit Großvater Kohl und mit dem großen Bruder Schröder ähnlich wie mit Jackett oder Anzugshose: Sie sind mir ferner als Unterhemd und Shirt. Näher sind mir die beiden lieben alten Gesichter, die mich nun seit so vielen Jahren verlässlich von den Plakatwänden in der Kreisstadt und von den Gartenzäunen und Laternenpfähle der Dörfer ebenso in Augenschein nehmen so wie ich sie: Die Herren Staatssekretär Hedrich und Dr. Struck. Und hier ist mein Problem: Wo mir schon die ferneren Großväter oder großen Brüder und Schwestern der Politik weniger sagen als die hängenden und klebenden jüngeren Brüder Peter und Klaus, sperrt sich abermals etwas gegen eine klare Entscheidung in mir. Der Grund dafür: Ich habe mich an beide gewöhnt. Schlicht und einfach bin ich in jene schleichende Vertrautheit mit den lieben Beiden geraten, wie Kinder in der Welt ihrer Bezugspersonen geraten. Eine unvermeidliche Welt von Onkel und Tanten, Cousinen und Vetter, Opis und Omas - die einen mag man, die anderen weniger. Aber sie würden ganz einfach das Familienbild stören, wenn sie fehlten. Unsere beiden Politiker nehmen inzwischen eine ähnliche Rolle ein wie jene Fotos von Familienfeiern: Da - auf den frühen Fotos im Politik-Album unseres Wahlkreises - lächelt der Klaus noch akademisch schmal und pädagogisch klug von den Plakaten seiner frühen Politikerkindheit. Heute wirkt er runder und gemütlicher. Scheinbar. Und den Peter erinnere ich noch mit stärkerem mönchischem Haarkranz um die Pfeife frisch trainiert damals durch die ewigen Stellvertreter-Stadtdirektor-Erfahrungen der kleinen Welt eines Uelzen für die der großen Welt, in der er nun als ewiger Erster Geschäfte führt. Die Tiefenpsychologie spricht von „Imago", von verinnerlichter Vorstellung von bestimmten nahen Personen, wenn sie nur lang und anhaltend genug unsere frühe Wahrnehmung prägten. So ist das bei mir - ich habe sie alle beide verinnerlicht. Außerdem überlappen, vereinen sie sich beide immer mehr hier in unserem Kreis, ihrem Wahl-Kreis, da sie hier und da dasselbe Projekt fördern. Und gar ab und zu dasselbe meinen. Und so die Profile im unbewussten Imago-Speicher mehr und mehr verwischen. Ich bin einfach mit beiden älter geworden, Vater geworden, Wähler geworden. Diese lieben vertrauten Gesichter sollen mich nicht mehr beide anlächeln können in vier Jahren? Möchte ich gar noch Großvater werden - mit ihnen als Patronen? Was also wählen? Oder liegt die Lösung am Sonntag dort, wo sie philosophisch immer liegt: Im Dazwischen? Heidegger hat schon recht: Mit der Freiheit wird der Mensch neu und ununterbrochen gezwungen - sich immer entscheiden zu müssen.
22. September 1998