Sperrmüll oder Ehe?

Die beiden Termine kollidieren am selben Tag: Die Einladung zu Reinhard Schamuhn kreativer Speicherdiskussion über den Wert bzw. Unwert der Ehe als Institution einerseits- und der Sperrmüllabfuhr bei uns, anderseits. Aber Christine meinte, derzeit wachse weniger unsere Ehe zu, dafür unser Haus samt Kellern und Böden „Deshalb war klar, welcher Termin Vorrang hatte: Sperrmüll nämlich." Als erstes verschafften wir uns Luft auf dem Boden durch den Abschied vom Korbgestühl aus den ersten Ehejahren. Aus dem einen Stuhl hatte ich Christine die ersten Referate über postmoderne Eheführung gehalten, auch dem zweiten hatte sie zunächst genickt, dann nur noch zugehört. Aus dem Getränkehalter (im gleichen Korngeflechts-Stil) hatten wir unsere Reifungsschritte jeweils begossen die leichten, schwerelosen Reifungen mit lieblichem Weißwein, die schweren, schwierigen Reifungen mit herbem Most. Alles selbst gemacht natürlich (ich meine den Most). Jetzt streckte das Korb-Mobiliar seine geflochtenen Weidenenden derart jammer- und vorwurfsvoll in alle Himmelsrichtungen, daß es den Weg aller Dinge gehen sollte: Auf den Sperrmüll. Der innere Reinigungsprozess belebte mich bei diesem ständigen Weg zwischen Keller und Straßenrand, zwischen Boden und Straßenrand, zwischen Speicher und Straßenrand. Ja, der innere Reinigungsprozess wuchs zum Ritual der Befreiung vom Alten, Grauen, Kaputten, Ollen - es war ein wichtiger Termin dieser Sperrmüll-Termin, bei dem ich eigentlich hätte über Ehe diskutieren sollen und den Vorteil der Befreiungsmöglichkeiten vom Sperrmüll eben derselben. Das Schöne an diesen Trennungen vom Alten, Ollen, Unschönen, Reizlosen: Sie sind gesellschaftlich nicht nur legal: Trennungen (wie zum Beispiel) durch Sperrmüll-Beteiligung ist sogar ein Zeichen für Bürgerreife, für Umgang mit Struktur, für Mündigkeit, fast ist dies Wegwerfen dürfen etwas, wodurch man Vorbild für die Schweine wird, die ihren Dreck in den Wald kippen. Meine Vorbildfunktion kriegen zwar solche Schweine nicht mit, aber ich kann mich dran freuen. Doch zwei Stunden später in der Dämmerung begriff ich meinen Irrtum: Da fuhr zunächst an unserem stattlichen Müllberg ein Kleinwagen mit offenem Hänger vor und nahm Dorotheas Kindheitslampe mit. Gleich danach schlenderte eine Kleingruppe von Jünglingen vorbei, die nicht zu unseren Töchtern wollten, sondern ebenfalls nur zum Müllberg, aus dem sie sich den Bürostuhl ohne Rollen pulten, alle mal kurz auf ihm unter dem Pflaumenbaum probesaßen - um mit ihm und Großmamas Reisekoffer weiter zu reisen. Zum Müllberg der Nachbarn. Ich mache es kurz: Bei Einbruch der Dunkelheit stand nur noch die Messlatte, die buntbemalte draußen vor der Tür, doch jemand mit Taschenlampe näherte sich, prüfte die naiv buntgemalte hübsche Latte und verschwand damit, ohne daß ich ihn erkannte. Jedenfalls war es jemand mit Geschmack. Wie auch immer - meine Erkenntnis: Es gibt keinen objektiven Sperrmüll. Was für mich Müll ist, ist für andere der Neubeginn, von Wert. Von so hohem sogar, daß er sich heimlich mit der Lampe nachts anschleicht - obwohl er es öffentlich hätte haben können. Ich schätze Trennungen sehr - aber sie führen eben nicht nur zu Trennungen auf Dauer, sondern auch zu neuer Nähe. Wie zu Dorotheas Kinderzimmerlampe, die ich wiedergekauft hätte, wäre ich nicht zu schnell gefahren. Und dies zu schnell"-nur dies kritisiere ich an Scheidungsmöglichkeiten dieser Hintertürchen-Option beim Heiraten... Schade, daß ich nicht da war, im Speicher. Aber unser Speicher musste befreit werden. Sonst hätte ich heute über Ehe geschrieben.

22. September 1992