Oh Ehrlichkeit, du teure...

Seit Monaten sind sie wieder zurück: Margret und Paul Gerhardt waren mit ihren Enkeln letztes Jahr an der Nordsee, tagsüber Strandwandern, Spiele am späten Nachmittag und Erzählen am langen Abend. Bei alledem geschieht Erziehung wie immer bei Großeltern und bei diesen ganz besonders - sozusagen nebenbei, nicht als anstrengende Hauptaufgabe wie bei den Eltern, die meist in der Literatur den Zusatz „geplagte" Eltern führen. Mit einer Ausnahme blieb Erziehung eine ruhige, gelassene Nebensache während dieser Ferientage. Denn während Enkel und Großeltern tagsüber Strandwandern übten, übten in einiger Entfernung am Strand auch Bundeswehrsoldaten. Sie verbrachten ihre Zeit in einem großen Biwak, in Zelten, die sie am Strand aufgeschlagen hatten und aus denen immer dann, wenn die Kinder in das Innere des Hauses mussten, Gesänge, Gelächter und Bierdosen drangen. Besonders dem Enkel Michael hatten es Biwak, Soldaten, deren Übungen und Strandleben angetan. Eines Morgens waren Biwak und Fahrzeuge, Bierdosen und andere Reste verschwunden und mit ihnen die Soldaten auch. Michael durchstreifte den Strandabschnitt, auf dem die Zelte gestanden hatten, mit Geschwistern und Großeltern besonders intensiv und - wurde fündig. Er fand im Sand eine Armbanduhr. Eine, die nicht nur neu und tadellos aussah, sondern die auch ging! Die Begeisterung über das Fundobjekt steigerte sich durch das Image dieser Uhr: eine Uhr von Soldaten, von einem Erwachsenen, wahrscheinlich eine Uhr mit allertiefster Taucheignung und Mehrfachfunktionen, geprägt vom Abenteuer durch das, was sich ein Junge unter Bundes- wehr vorstellt...Doch diese Begeisterung warf auch Schatten. Den von der gesellschaftlich vorgegebenen und christlich begründeten Moral vom Eigentum, und so hörte denn der Enkel Michael seinen Großvater ebenso sanft wie eindringlich davon erzählen, was es heiße, Eigentum anderer zu finden. War die Uhr wertvoll? Hatte sie den Besitzer Opfer gekostet? Hatte eine Freundin sie dem Soldaten vielleicht zu Weihnachten unter den Baum gelegt? Auch Michael lebte von der hier zu Lande üblichen Mischung aus Milieuprägung und genetischer Herkunft und außerdem lebte er nicht nur damit, sondern er liebte auch die Liebe seines in dieser Frage der gefundenen Uhr merkwürdig hartnäckigen Großvaters. Er erklärte sich mit dem Opfer einverstanden und verzichtete auf die Begeisterung des Findens und die Uhr. Die wurde bei einem bedeutsamen Gang zum nächsten Fundbüro immer wichtiger und erhielt innerhalb dieser Behörde auch ihren Rang durch Empfangsbestätigung und Hinterlegung der Adresse von Michael als ehrlichem Finder. Mit dem Gefühl, ein Stück mehr zu wissen, was Ehrlichkeit einem einbringt und was nicht (in Michaels Fall waren es die Anerkennung seiner Großeltern, sein Ruf eines ehrlichen Finders, aber kein materieller Ersatz) war das Strandabenteuer für Michael damit zu Ende. Scheinbar; denn in diesen Tagen begann das dramatische Nachspiel: Michael erhielt Post. Er musste sogar selbst zur Tür kommen, an der der Postbote auf ihn wartete. „Bist du Michael?" fragte der Bote bedeutsam. Michael nickte. „Du kriegst etwas vom Fundbüro!" Michael strahlte und dachte an den Zusammenhang von Ehrlichkeit und Ehre, wie sein Großvater es ihm erklärt hatte. Sicher bekam er jetzt eine Belohnung. Vom Soldaten. Oder vom Fundbüro. Doch dieses Strahlen verging - zumindest Michaels Eltern: Sie mussten für die Empfangsnahme DM 28,- (in Worten: zwanzigundacht) Nachnahmegebühr zahlen. Was sie auch taten, denn ihnen war die Bedeutung des Päckchens deutlich: Es war eben jene Uhr, die darin lag. „Lagerkosten und Verwaltungsgebühr" wurden im Begleitschreiben als Gründe für die DM 28,- angegeben, nicht für die Uhr selbst. Diese stellte sich nach eingehender Prüfung als weit wertloser heraus, als es die Nachnahmegebühr war. Bleibt zu hoffen, daß den Michaels dieser Generation nicht auch ihre Ehrlichkeit auf diese Weise wertloser wird.

22. Januar 1991