Sie und Du
Onkel Rudolf hat es geschafft, alle meine Kenntnisse vom Umgang mit Nähe und Distanz, die uns menschlichen Wesen beherrscht, erheblich anzureichern. Ehrlich gesagt: Er hat mich total überrascht. Aber er war immer schon ein heimliches Vorbild für mich, weil er lauter bei uns verpönte Dinge tat: Jagen, auf Single-Partys gehen, zwei Damen gleichzeitig zum Theater einladen, jeden Abend einen Schnaps - sowas eben. Onkel Rudolf feierte gerade seinen 75. und auf dem dazugehörigen Familienfest wurde wieder einmal deutlich, wie er und Tante Lucie Hund und Katze sind. Außer daß sie Vetter und Cousine sind. Meine Mutter berichtete mir schon vor einem Vierteljahrhundert von diesem Dauerzwist, der seinen Grund in einer Verlobungsfeier des Jahres 1951 haben soll: Da war mein damals ganz junger Onkel Rudolf Tischherr von der damals auch ganz jungen Tante Lucie gewesen und hat sich wohl zu lange mit der Dame auf seiner anderen Seite unterhalten. Jedenfalls fühlte sich Lucie damals missachtet und das ist wohl auch so gewesen. Denn auch ich - ihr Großneffe - und alle Mitmenschen dazwischen haben den Vorwurf von Tante Lucie zu spüren bekommen, wir kümmerten uns nicht um sie. Natürlich lagen die Gründe tiefer: Schon die Mutter von Lucie hatte hier und da fallen gelassen, daß sie eigentlich eine Mesalliance mit der Familie von Rudolfs Vater eingegangen sei...Meiner Familie! „Es gibt keine gute Erziehung mehr!" hörte ich Tante Lucie bei meiner Konfirmation Onkel Rudolf zuzischen, keine Ritterlichkeit...“. Letzteres fügte sie manchmal mit jener Prise Vorwurf hinzu, deretwegen ich oft ein Lorgnon an ihr träumte, obwohl sie nie eins trug. Nun hat Onkel Rudolf gehandelt. „Ich erfülle mir zum 75. einen Wunsch selbst," hatte er vor seinem Fest gesagt, aber nichts gesagt. Kein Gegenstand lag dann auf dem Gabentisch. Kein besonderer Gast erschien. Am Tag nach dem Geburtstag half er bei seinen Töchtern noch Blumenpapier wegräumen, die Sträuße verschenken und Reste aufessen. Jedoch ärgerte er sich diesmal bei der „Nachlese" deutlich kürzer und leiser über Tante Lucie (Nachlese heißt bei uns: Herziehen über die abgereisten Verwandten. Aber nicht einfach Klatschen über sie, wie andere, sondern aufgrund sog. psychohygienischer Gründe, also zur Vorbeugung der psychischen Gesundheit). Am zweiten Tag kaufte er sich eine Fahrkarte 1. Klasse nach Hamburg, wo Tante Lucie seit ihrer kurzen Ehe im Krieg residiert. Onkel Rudolf hatte sich bei ihr offiziell und zu ihrer übergroßen Überraschung angemeldet. Und ihr ebenso offiziell das „Sie" angeboten. Onkel Rudolf hat dann Tante Lucie unmittelbar nach seiner Bitte, sie ab sofort Siezen zu dürfen, sofort mit Frau Uhlhorn angeredet und ihr außerdem eine kleine Rede über Nähe und Distanz gehalten, über überflüssige Floskeln wie „liebe Lucie", über Ehrlichkeit und seine Ansicht geredet, daß eine formelle Distanz seiner Meinung nach der Beziehung zwischen ihnen gerechter würde. „Und?" fragten wir bei dieser Berichterstattung (durch Dritte, denen Onkel Rudolf mehr erzählt hat) „und Tante Lucie?" Sie soll sich erhoben und ihm die Hand gereicht haben und sehr ernst gesagt haben: „Herr Dr. Oberdieck - Sie imponieren mir!" Das war das Geschenk, das sich Onkel Rudolf selbst zum 75. gemacht hat. Wie ich schon sagte: Onkel Rudolf war immer schon mein Vorbild. Ab jetzt aber nicht mehr heimlich.
21. Oktober 1997