Von einem, der tagsüber schläft

Alexander hat einen Onkel (3. Grades, trotzdem beliebt), mit dem er und weitere Verwandte früher schon Aufsehen erregten. Denn dies - Aufsehen auszulösen - machte dieser Onkel zu seinem Beruf. Und dies, obwohl Alexanders Onkel der bescheidensten einer ist...Aufsehen löste und löst dieser Onkel von Alexander dadurch immer aus, daß er Sterngucker, Astronom ist. Also einer, der erstens selbst immer aufsieht zu den Sternen und diejenigen, die sich für ihn oder seine Sterne interessieren auch immer nur einladen kann. Zum Auf-Sehen zu den Sternen. Mit bloßem Auge machte dieser Onkel das schon als Schüler, erzählte Alexander ehrfurchtsvoll, den es damals noch gar nicht gab. Mit Fernglas studierte der Onkel die Sterne während mancher Nächte von der Luftmatratze auf dem Gartenrasen aus. Mit einem ersten kleinen Fernrohr studierte er die Sterne als junger Soldat in Griechenland. Mit großen Fernrohren und kleinen Teleskopen lernte er weiter als Student der Astronomie bei seinen Professoren in der Nachkriegszeit, mit großen Spiegelteleskopen lehrte und forschte er weiter, als er selbst längst Professor und Sternwarten-Direktor wurde. Oft ein Nachtjob, weswegen an Stern- warten der USA an seiner (und anderer Astronomen) Schlafräume ein Schild hängt: Bitte Ruhe - Tagesschläfer (daysleeper). Alexanders Onkel hat von seinen Erfolgen im Aufsehen nie Aufhebens gemacht. Während andere nach den Sternen griffen, begnügte er sich mit deren Betrachtung. Was zählen für einen, der sich in den Weiten des Kosmos aufhält, schon Ehren, die sich die Menschheit in ihrer Enge wechselseitig verleiht? Orden, Präsidentschaften und Parkbänke mit Messingschild, Ehrenvorsitze, honoris-causa- Titel, Widmungen in Büchern - alles Denkmale, die dazu dienen, an den mal zu denken, dem das Denk-Mal gewidmet ist. Für alles dieses hatte Alexanders Onkel Verständnis, weil er nicht nur was von Sternen versteht, sondern auch von den Sehnsüchten der Menschen, die nach ihnen greifen. Nur ihm selbst sagten Denkmäler nichts. Doch die Ehrung, die ihm jetzt widerfuhr, muss ihm was gesagt haben: Ein Stern ist nach ihm benannt worden, genauer: Ein Planet. Einer der früheren Studenten dieses Onkels, erzählte Alexander, hat einen kleinen Planeten entdeckt und damit das Recht zugesprochen bekommen, diesem einen Namen zu geben. Das klinge nur so einfach, dozierte Alexander bedeutungsschwanger: Dieser Planet war vor der Geburt von Alexanders Onkel schon mal gesichtet worden - und wieder verschwunden. Jetzt - 1988 - hatte dieser Student die Bahn dieses Sterns nun endgültig berechnet und damit auch, wann der Stern wiederauftauchen wird. Irgendwie muss die Bescheidenheit von Alexanders Onkel auf diesen Studenten, selbst inzwischen Sternen-Koryphäe, abgefärbt haben. denn er ließ den Planeten nicht auf seinen eigenen Namen, sondern eben den seines Lehrers taufen. Und mit der entsprechenden vierstelligen Zahl in der US-Zentrale eintragen. Für immer und ewig. Alexander trägt Vollbart und Hornbrille - dennoch wirkte er bei seiner Erzählung ein bisschen entrückt auf mich, geradezu ein ganz klein bisschen engelhaft. Schließlich ist Alexanders Onkel - wenn auch nur 3. Grades - jetzt am Himmel und nicht im Himmel, wohin es gewöhnliche Onkel verschlägt. Genauer: Der Name ist am Himmel. Und Alexander trägt diesen Namen wie viele andere Familienmitglieder auch. Egal, ob der Onkel und Alexander jemals diesen Planeten sehen werden die Aussicht darauf ist nicht groß, dafür kosmisch. „Was hat er denn gesagt“, Dein Onkel frage ich Alexander, denn ich kenne nur Reaktionen von Leuten, die Bundesverdienstkreuze, Ehrendoktorhüte oder Ehrenvorsitze kriegen und dies für den Himmel auf Erden halten - während Alexanders Onkel immerhin ein Stückchen Himmel kriegt. „Oh", Alexander erinnerte sich, „er sagte, daß der Planet ein kleiner Planet sei, der 1913 - also vor seiner Geburt - schon mal gesehen worden sei..." Ich merke, ich bin neidisch auf Alexander - ein bisschen Ewigkeit ist schon was Schönes. Auch wenn es eine rein menschliche Vorstellung von Ewigkeit ist. Eine eitle nämlich. Wie schreibt Matthias Claudius, dessen 250. wir dieser Tage feiern, so richtig in der 4. Strophe des berühmtesten deutschen Abendliedes vom aufgegangenen Mond?... „Wir spinnen Luftgespinste und suchen viele Künste... und kommen weiter von dem Ziel..." Alexanders Onkel hats geschafft: Der ist näher dran. Er hats verdient.

21. August 1990