Katharinas Brille

Zunächst war sie mir nicht weiter aufgefallen, die Katharina hinten links in der Gruppensitzung am Mittwoch. Außer vielleicht durch ihre großen alemannisch dunklen Augen hinter der Brille. Eine ganz normale Brille, mit durchsichtigen Ohrbügeln, darüber ein roter Rand. Und eben die großen dunklen Augen. Am nächsten Tag sa Katharina mir näher - und ich schaute wieder in ihre Augen diesmal jedoch durch eine Brille mit gelbem Bügel. Das Gelb passte auch gut zu dem Braun ihrer Augen. Das war Donnerstag. Freitag erschien sie in der Gruppe mit einem grünen Brillenbügel und Samstag in Braun. Während ich mich bisher mit Katharina über Gott und die Welt ausgetauscht hatte, interessierte mich zunehmend das vergleichsweise lächerlich winzige Detail ihrer Brillenmode. Ich näherte mich dem Thema beziehungsweise Katharina, indem ich ihr meine Bewunderung ausdrückte über diese Brillenvielfalt. Wieviel sie denn hätte, wann sie welche Farbe trüge? Katharina starrte mich durch ihre (braune) Brille an und fing dann an zu lachen. Irgendwie oder irgendwen oder irgendwas schien sie auszulachen. „Schön wär‘s," sagte Katharina dann, „das mit den vielen Brillen. Im Gegenteil - es ist immer dieselbe Brille." Und dann wurde sie ernster und erzählte, daß sie eigentlich längst eine neue Brille brauchte, aber kein Geld habe. (Katharina ist in einer Zusatzausbildung, die sie bezahlen muss, außerdem alleinerziehende Mutter). So habe sie zum zweiten Mal neue Brillengläser in der uralten Brille. Und weil sie diese immer gleiche Brille anöde - einfach begonnen, den früher auch durchsichtigen Oberrand der Brille über den Bügeln anzumalen. Mit Deck-Farben aus ihrem Tuschkasten, die prima auf dem Brillenkunststoff hafteten. Abends wische sie die Tagesfarbe ab, morgens beim Frühstück wählte sie die neue. Je nach Stimmung. Ich drückte Katharina meine Bewunderung über diesen kreativen Umgang in und mit finanzschwachen Zeiten aus und meinte, was ich sagte: Katharinas Idee fand ich genial. Das fand auch Herbert, dem ich vorgestern abends Katharinas Brillengeschichte erzählte. Herbert studierte früher Sozialpädagogik bei mir und besitzt heute vier Brillengeschäfte in drei Städten. Noch von meinem Telefon aus bot Herbert Katharina an, ihre Ideen in größerem Stile zu realisieren. Außerdem bot er ihr eine erste Summe für das Projekt „Herberts Kreativ-Brillen für kreative Träger". Er würde die neue Brille mit etwas breiterem Oberrand herstellen und sie für Kinder, die immer kreativ sind, und für Erwachsene, die sich gerne als solche zeigen, gleich mit Farbkasten in einem Pocket anbieten. Der Oberrand solle deshalb etwas breiter sein, damit auch winzige Symbole oder Figuren (Herbert dachte an Herzchen, Blitze, Piktogramme) mit dem Feinpinsel darauf gemalt werden können. Katharina hat zugesagt und mich gleich angerufen, weil sie mich zum Essen ausführen will. Ein fürstliches Essen. Denn Katharina kann von Herberts erster Rate wieder auswärts essen gehen. Oder so viel Brillen oder Kontaktlinsen kaufen wie sie will. Wenn sie will. Sie will aber gar nicht mehr.

21. Mai 1997