„Welttag des Buches" ?
Übermorgen ist der „Welttag des Buches". Die Unesco will es so. Ich bin da skeptisch. Erstens sowieso gegen „Welttage" für etwas oder gegen etwas. Und zweitens besonders gegen den Welttag des Buches, welches ja nachweislich im Schwinden sein soll. Zu erstens zu Welttagen im allgemeinen: Ich war vier Jahre alt, als mir Onkel Hans-Heinrich seine frisch erworbenen astronomischen Kenntnisse ungefähr so erläuterte: Da gibt es Planeten im Weltraum (er nannte genaue Namen), die sind ungefähr so groß - und er zeigte auf den Globus auf Mutter‘s Schreibtisch. Dann gibt es unseren Planeten Erde, auf dem ich lebe und er und Mutter und überhaupt alle Menschen und der sei (auch nur ungefähr) so groß - und er hielt neben den Globus eine von Großmutters Nähnadeln (die überhaupt nur sichtbar waren durch ihren winzig kleinen Kopf oben). Seit dieser Privatvorlesung von knapp 50 Jahren halte ich unsere Weltkongresse, Erdanschauungen, Welttage für übertrieben. Weil es ja eigentlich immer nur Erdkongresse, Erdanschauungen, Erdtage sein können. Höchstens. Jetzt also der „Welttag des Buches", den die Unesco am 23. April auslobt. Es gibt für sowas immer Anlässe und Gründe. Der Anlass der Unesco: An einem 23. April starben gleich zwei der Großen der Literatur, ach was sage ich, zwei der Größten der Literatur: Shakespeare in England (wir erinnern uns: Romeo's Sommernachtstraum), Cervantes in Spanien (wir erinnern uns: Don Quijote und seine Moral). Die beiden taten der Unesco auch noch den Gefallen und starben am 23. April desselben Jahres. 1616. Soviel zum Anlass. Nun der Grund. Ich bin sicher, daß die Unesco als Grund einen Doppeltodestag (und nicht etwa einen Doppelgeburtstag) für den Welttag des Buches wählte. Weil es um das Buch traurig steht. Die Unesco will anlässlich des Todes von zwei Größtdichtern daran erinnern, daß es noch Bücher gibt und bald keine mehr. Sozusagen ein weltweiter Aufruf, sich die letzten Exemplare richtig gedruckter Bücher zu sichern. Sozusagen ein letzter Aufschrei zugunsten des Umsatzes für den Buchhandel, der schließlich seinen Namen vom Handel mit dem Buch ableitet. Und mit dem Verschwinden des Buches seine Identität verliert. Das Buch verschwindet nämlich im Internet. Die ersten Lexikonverlage verkaufen inzwischen nicht mehr meterweise Wissen in Büchern fürs Bord überm Sofa oder den Schrank neben dem Bürotisch - sondern verkaufen eine CD-Rom, auf der der Duden, der Meyer, der Langenscheidt- einfach alle darauf sind. Das spart Platz im dann ehemaligen Bücherschrank für Videos. Und erste Klassikerreihen (z. B. der ganze Shakespeare) verschwinden in einem Mikrochip…mit dem der Leser ins Bett gehen kann. Zusammen mit einem kleinen elektronischen Gerät, das die auf dem Chip gespeicherten Sammelwerke von Luther und Goethe über Grass und Asterix bis zum Kompaktjahrgang von „Frau im Spiegel" aufsucht, vergrößert und umblättert, je nach individueller Lesegeschwindigkeit. Das ist kein Witz, sondern bereits Gegenwart, die die große Zukunft vor sich hat. Erste Hochschulen entwerfen reine Internet-Studiengänge - ohne Bücher. Deshalb gibt es den „Welttag des Buches" übermorgen. Ein Abschiedsgedenken. Wie von Shakespeare und Cervantes. Wir werden statt hommes de lettre oder hommes de libre, statt Autoren und Buchhändlern: Hommes de CD-Rom, hommes de Internet.
21. April 1998