My boy - my girl
„My Boy!" hörte ich die Frau rufen und sah sie auf den Mann zulaufen, der zwischen zwei Reisetaschen stand, sich suchend umgesehen hatte und hinter seinem Rücken einen Strauß roter Tulpen versteckt hielt. „My girl!" hörte ich dann ihn brüllen und sah neidvoll zu, wie er leichtathletisch über eine seiner beiden Reisetaschen hüpfte, auf sie zu rannte und wie die beiden ineinander fielen. „Der schöne Strauß!" sagte die ältere Dame neben mir, die die beiden offenbar ebenso mit dem Blick verfolgt hatte wie ich und fast alle um uns herum auf diesem hannoverschen Bahn- steig, auf dem ich auf den Interregio nach Uelzen wartete. Der Tulpenstrauß war in der Tat lebensbedroht - er wurde zwischen den beiden vor Liebe zerquetscht, denn mit seinen Armen hob der Mann (lang, schlank, Jeans, nicht enden wollende hellblonde Haare, hinten zum Zopf zusammengebunden) die Frau (lang, Jeans, lange hell- blonde Haare, aber hinten offen) auf und ab, auf und ab. Währenddessen wühlte sie mit ihren Händen sein Haupthaar samt Zopf durcheinander. Begonnen hatte die Szene bei meinem ersten Currywurst-Bissen. Sie hielt die ganze Wurstlänge über an, und die beiden liebkosten einander immer noch stumm, während die Reisenden auf dem Bahnsteig in voyeuristische Andacht versunken waren. Einschließlich der Bahnbeamten. „Schön," murmelte ein pelzverbrämter Herr, und ich gab ihm trotz des Pelzes recht: Es war wunderschön, da- bei zu sein. Ich dachte darüber nach, was die beiden wohl veranlasste, einander so zu begrüßen, wie ich es mir immer wünsche beim Heimkehren (wobei ich mir oft selbst im Weg stehe, weil mein Kopf noch voll mit anderer Welt ist). War es bei den beiden stumm Liebenden wochenlange Trennung? Oder war die Zeit kurz, aber die geographische Distanz gewaltig? War er vielleicht gefährdet gewesen in einem Seelenverkäufer der Luft in Zentralafrika? Oder auf einem Amazonas-Boot? Kam er gar von einer Front in Jugoslawien? Gab es während seiner Abwesenheit eine erlösende Nachricht, die ihrer beider Leben verändern würde: Eine attraktive, lange er- sehnte Arbeitsstelle? Einen Lottogewinn? War sie schwanger und hatte dies zwischenzeitlich erfahren? Oder hatte der eine den anderen - mir war ein Romanmotiv eingefallen betrogen, und der Versöhnungsbrief war während der Reise angekommen? In meine Phantasien hinein für der Interregio, der mich weg von dem Pärchen und hin nach Uelzen bringen sollte. Ich verabschiedete mich von den beiden da vorn mit einem Fernblick - doch siehe da: Sie stiegen in denselben Zug. Ich bin ein neugieriger Mensch und hatte außerdem das Gefühl, die beiden nun schon länger und gut zu kennen. Dieses Gefühl steuerte mich weg von meinem reservierten Platz und hin in den nächsten Waggon, in dem ich die beiden suchte und fand- und ins Gespräch verführte. So ganz allgemein. Das Ergebnis: Es war nichts von dem, was ich gedacht, vermutet, gewünscht, erhofft hatte. Sie waren nur drei Tage und 170 km voneinander getrennt gewesen, außerdem acht Jahre verheiratet und zogen bereits eigene Kinder auf. Aber sie hatten einen Film gesehen vorgestern. Sie in Celle, er in Kassel. „My girl" heißt der Film und handelt von erster Liebe, die durch den Tod beendet wird. Und seit langem hätten sie nicht mehr voneinander getrennt so geheult. Und fühlten mal wieder jenes Gefühl, daß sie einander hätten...Von Celle dehnte sich meine Zeit unerträglich lang. Ich sah von Eschede an nur noch den Bahnsteig 102 in Uelzen vor dem inneren Auge. Wo sie vielleicht warten würde - my girl.
21. Januar 1992