Clinwinsky - oder moralischer Zeigefinger
Lia, eine meiner Freundinnen in den USA, schwieg erst ein, zwei, drei teure Telefonsekunden, dann wurde sie so leise, daß ich sie bat, lauter und möglichst deutsch zu sprechen (sie hat in Hamburg studiert). Lia wurde danach so laut, daß ich den Hörer weiter von mir hielt. Schließlich heulte sie. „Wie sagt Ihr da drüben bei Euch? Es ist zum - Katzen!" Ich hatte Lia nach der „Affäre" Clinton-Lewinsky gefragt, weil ich neugierig war, was eine ausgebildete Theologin und Psychotherapeutin da drüben dazu sagt. Lias Ausbruch verhinderte, daß ich sie korrigierte und sie den Unterschied zwischen „Katzen" und „Kotzen" lehrte. Und auch darauf verzichtete, daß dies nur ein Zitat von einem einzelnen Deutschen sei. Selbst wenn dieser unser Bundeskanzler war. Lia war selbst wie eine Katze und fauchte, daß nichts schlimmer sei, als gleichzeitig die eigene Nation zu lieben und sich ihrer zu schämen. Alle, sagte Lia und heulte wütend, alle sitzen wir hier im Glashaus unserer Sexualität - und unsere Führer schmeißen ihre Steine aus diesem Glashaus in die Öffentlichkeit, hinein in das Internet, hinein in die Seelen unserer Kinder, hinein in unser kollektives Selbstwertgefühl. Nein, wegen Clintons Affäre schäme sie sich weniger. Bills Lüge erinnere sie nur an ihre Mam, wenn diese bei ihr oder ihren Geschwistern auf eine Lüge stieß. Ihre Mam habe, wenn eines ihrer Kinder bei einer Lüge ertappt wurde, zwar die Lüge bestraft - aber immer auch geforscht, warum der Lügner gelogen habe. Und oft sei die Lüge unter Druck, unter Drohungen von jemandem entstanden. Einmal habe ihre Mam sogar genickt und verstanden, daß sie – Lia - gelogen habe. Natürlich - damals war sie ein Kind. Bill ist groß. Aber deshalb doch kein Ideal. Ideale können wir doch immer nur anstreben, nie erreichen. Lias Theologie-Prägung war auch am Telefon zu hören: Die Leute im Glashaus amerikanischer Sexualität hätten keine Balken im Auge, mit denen sie auf die Suche nach Splittern bei anderen gingen. Sie trügen vielmehr ganze Wälder als Brille über ihren Augen. Wälder jener Sorte, die nie abgeholzt, sondern solange nachwachsen würden wie es Menschen in Glashäusern gibt. „Ihr habt es gut, da drüben," schloss Lia, „bei Euch darf man alle die Freiheiten ausleben, die wir empfohlen haben..." Und als ich unsicher nachfragte, was und wen sie meine, meinte sie unseren neuen Bundeskanzler, der durchaus viermal heiraten und trotzdem Kanzler werden dürfe. Unmöglich im prüden Amerika und „prüde" heiße für sie: Vorne hui - und hinten eben das dazugehörige Gegenteil. Mir fiel mein Glashaus ein und die, die ich darin treffe. Es sind nicht diese wahnsinnig ehrlichen Leute, die viermal heiraten wie nicht nur unser neuer Kanzler oder manche Führungsbeamten und manchmal auch ein Pastor...Zum Schluss habe ich Lia noch sagen können, daß Sylviane Agacinski, die Ehefrau des französischen Premiers, wohl ihrer Meinung sein dürfte. Die hatte gesagt: „Der Skandal der Lewinsky-Affäre ist nicht, daß der Präsident gelogen hat. sondern daß man das Recht hat, ihn zu seinem Privatleben zu befragen."
20. Oktober 1998