Von Drachen und Drachen
19,80 Mark kostete der Drachen, den die Allgemeine Zeitung kürzlich inserierte. Kostenlos war hingegen der Wind, der gestern in den Nachrichten für die Ostsee heute vorausgesagt wurde: Stärke 3 bis 3 zunehmend. Zunehmend stärker wiederum wurde die Stimmung auf der Fahrt zur Küste - zusammen mit der Schwiegermutter hinten im Auto, die die Drachen-Fahrt anfangs trocken kommentiert hatte, nun hätten wir zwei Drachen im Auto. Von Lauenburg bis Schnackenburg fachsimpelte ich mit Christine über den Unterschied zwischen unseren Drachen der Kindheit, selbstgebastelt aus Bambusstäben und Packpapier und denen von heute: Aus besonders windresistenten Nylon (laut Verpackungstüte haltbar bis Windstärke 5), mit bis zu 75 Meter langen Doppelleinen (fast dreimal so hoch wie der Hanstedter Kirchturm). Drachen mit zwei bis vier Stoffetagen, oder mit Schleppen von bis zu acht Metern, Drachen besonderer Steigungsfähigkeit und Drachen für Kunstflug und Wettbewerbe. Am Timmendorfer Strand schließlich war ich unter meinesgleichen: Mehrere Menschen, ausschließlich männliche, teilten sich jeweils unwillkürlich entstandene Strandabschnitte für ihren Drachen. Der Himmel war voll mit Drachen, bunten und einfarbigen, virtuosen und starren. Starr und stumm hingen die Blicke der einsamen Männer am Himmel, begleiteten ihre Drachen als Teile von sich, als wären es Stücke von ihnen. Diese Drachen-Männer dürften allerhöchstens ihre Geigen an ihren seelischen Liebeshimmeln derart fasziniert angehimmelt haben - sonst oder seitdem nie wieder etwas. Doch während ich meinen AZ-Drachen für 19,80 Mark auspackte, packte mich die Sorge wie früher, wenn ich mein von Onkel Martin ererbtes klobiges Wanderfahrrad auf dem Schulhof-Fahrradstand zwischen die hochmodernen Gangschaltungsräder mit Sportlenker quetschte: Würde ich unter diesen Göttern am Ostseehimmel bestehen? Meinen Platz finden in diesem attraktiven Jet-Set da oben? Überhaupt nach oben gelangen? Mit der Unterstützung meiner drei Damen aus drei Generationen war nicht zu rechnen, die rechneten mich mitsamt meinem Uelzener Provinz-Drachen eher in die Nachfolgegruppe modelleisenbahnender Mannskinder. Doch für Ängste gab es keinen weiteren Platz: erst knisternd, dann knatternd fing mein Drachen an im Ostseewind (3 bis 4) zu leben, von bebenden Fingern festgehalten. Minuten später torkelte er erst direkt vor, danach über mir, wieder Sekunden später knatterte er stolz auf die Curschmann-Klinik zu, fast so hoch wie diese, hinter der ich alle meine Patienten und Kollegen vermutete, wie sie kritisch nur auf meinen Mini-Drachen unter diesen Mega-Stars starrten. Dann waren es nur noch wenige Sekunden - bis mein Drachen sich los-, auf- und davonmachte. Ich hatte die Perlon-Schnur bis zum Ende abgerollt und das Ende einen Sekundenbruchteil nicht fest genug gehalten- und so schwebte mein Drachen einsam über alle anderen Drachen hinweg auf die Wasserlinie zu, wo er gen Mecklenburg verschwand. Was sag' ich Richtung Bornholm, Kattegat, ach was - mein Drachen könnte es bis Schweden schaffen, so strahlend, so stabil, so zielgerichtet entschwand er. Zwei Nachbarn mit ihren Angeber-Drachen nickten mir anerkennend über ihr magischen Kreisgrenzen hinweg zu. „Doll - was?" sagte ein dritter hinter mir, „Du schaffst das bis Russland - bei dem Wetter!" Genau - das ist das Geheimnis: Die Drachen da oben sind wir, sind Teile von uns, sind wunderschöne Projektionen unterer Seelenschichten, die wie Sonnen nach oben streben können. Wenn es so keinerlei menschliche Drachen nicht gäbe.
20. Oktober 1992