Englisches Mitgefühl
Beide waren Alexander vor seiner Herbstferienfahrt nach London bekannt: Der angebliche Dauernieselregen. Und die angebliche englische Distanziertheit in Gefühlssachen. Es stimmte beides: Es nieselte bei der Grenzüberschreitung vom Landkreis Uelzen in den von Lüneburg, dann Harburg ebenso wie es weiternieselte bei der Grenzüberschreitung der Staatsgrenzen zu Hamburg und 20 Stunden später mit der Fähre zum Vereinigten Königreichinnenreich. Während Alexander zuhause geschimpft hatte, adaptierte er in London sozusagen mit britischem Nieselregen auch britische Gelassenheit. Zumal es im Hotel ebenso zuging: gelassen, ruhig, höflich distanziert. Alexander wollte gerade diese britische Eigenschaft der Gelassenheit als seine eigene, neue Wesensseite erkennen, die sozusagen in Uelzen nur verkümmert, von anderen zugedeckelt würde - da passierte es am nächsten Morgen: Alexander war pfeifend und in froher Erwartung des Ausfluges in die englische Provinz um jene Ecke der Parkstraße gebogen, in der er sein Auto wusste. Sein geliebtes Vehikel: Ziemlich voll mit Gepäckstücken für seine fünfköpfige Familie, mit Fernglas (Zeiss-Jena) für die Beobachtung englischer Küstenstriche, Spazierstock (von Großonkel Wilhelm geerbt) für den typisch englischen Walk in englischen Gärten mit Schlössern, deren Herren sich Geld mit Bed and Breakfest verdienten. Doch es war nicht da. Alexander konnte sooft seine Wahrnehmung kontrollieren und seine Erinnerung an den präzisen Platz des Parkens wachrufen wie er wollte: Der Wagen blieb weg. Weg blieb auch die jüngst erworbene Gelassenheit und sein vergnügtes Pfeifen sowieso Minuten später blieb auch die Hoffnung weg, daß sein Wagen - er stand im Parkverbot auf jener, Straße - nur abgeschleppt, der gerechten Strafe eines nachlässig parkenden Ausländers zugeführt - auf einem der Centralparks warte, "removed", nur abgeschleppt sei. Nein, hieß es in englischer Nüchternheit in der Behörde mit der Zentralkartei zwangsläufig und strafrechtlich abgeschleppter Autos, der Wagen sei nicht gemeldet und deshalb gestohlen, weil alle fälschlich geparkten Autos bekannt seien. Neben dem Verlust des Autos wer kriegt sein Auto in dem Moloch der Weltstadt London wieder? - nagte an Alexander mehr: Nicht das Fernglas von Zeiss und nicht der Stock von Onkel Wilhelm allein waren es, die ihn quälten: Es war die schrecklich teilnahmslose Reaktion der britischen Bevölkerung auf den Verlust von Alexanders Auto. Als eine Stunde später zwei ebenso höfliche wie unbeteiligte Bobbies vorsprachen, um die Personalien von Auto und Alexander aufzunehmen, verabschiedete sich der eine und wünschte doch gar einen weiter- hin guten Tag und schöne Ferien! Alexander war tiefer gekränkt über die Behandlung als von dem Diebstahl. Er verwünschte England und englische Gelassenheit und sehnte sich nach mitfühlenden Uelzener Beamten. Es war wenig davon zu spüren, daß dies England einmal in personeller Thronverbindung zum hannoverschen Welfenhaus gestanden hat. Erst einen Tag vor der Abreise wurde Alexander belehrt: Es gibt englisches Mitleid. Aber eben auf englische Art. Da wurde Alexander beim Frühstück ein Brief überreicht. Er kam von der Metropolitan Police. Es war ein persönlicher Brief an Alexander, in dem (wörtlich) zutiefst bedauert wurde, daß er und seine Family Opfer eines kriminellen Vergehens geworden seien. Und das auf englischem Boden. Alexander war ergriffen von dieser Art verzögerter Anteilnahme. Besonders deshalb, weil sein Wagen seit 2 Tagen wieder da und Vehikel für schöne Ausflüge war. Er war ausgerechnet in jener halben Stunde auf einem Abschleppwagen durch London transportiert, als schon mit der Polizei wegen des Alexander vollzogenen Diebstahls sprach. So höflich sind sie, die Engländer: Entschuldigen sich für die Untat, die letztlich Alexander getan hatte.
19. Oktober 1993