Verrückte Welt: Kopierte Welt
Früher hieß es bei auffallender Ähnlichkeit - zum Beispiel von Mitgliedern meiner Familie, die berüchtigt sind für ihre großen Nasen und die Form der Köpfe, die an Eier erinnert: „Guter Himmel! Die sehn sich ja ähnlich wie ein Ei dem andern!" Eine Variante dieser Überraschungsausrufe bei großer Ähnlichkeit war: „Wie aus dem Gesicht geschnitten..." Die Zeiten ändern sich und mit ihnen solche Floskeln. In unserer Zeit regiert die Mikroelektronik, und so heißt es heutzutage schlicht in der Sprache jener Geräte, mit denen wir unseren Alltag spicken: „Nein diese Tochter ist ja eine Kopie ihres Vaters!" Oder so ähnlich. Tatsächlich lernt der Besucher aus Uelzen nicht erst auf der gegenwärtig stattfindenden Computermesse CeBIT in Hannover, daß die Welt kopierbar ist: Auf Kopiergeräten, auf Personal-Computern, stationär und mobil - alles ist kopierbar und wirbt mit dieser Eigenschaft. Je schneller die Kopie, je näher dem Original, je unverwechselbarer die Kopie mit dem Original ist - desto besser. Und auch teurer. Das hat Folgen, zum Beispiel die Trennung in legale Kopien und illegale. Über jedem anständigen Kopiergerät warnen überdimensionale Plakate: „Kopieren verboten". Schließlich leben wir Buchautoren und Partituren-Schreiber, Graphiker und Komponisten von dem, was wir schreiben. Und doch: Was mache ich bei der Vorbereitung eines Seminars, in dem ich Kolleginnen zitieren will? Ich kopiere. Mit dem Warnungsschild über, neben und hinter mir... Woraus singe ich, wenn ich im heimatlichen Gottesdienst im Heidedorf endlich einmal neue Lieder zum Einüben von unserem Pastor ausgehändigt bekomme? Aus einer Sammlung liebevoll gehefteter Kopien. Wir sind alle Straftäter - ich voran. Letzte Woche hat die Schweiz ihr Urheberrechtsgesetz verschärft wegen der Milliarden unerlaubten Kopien: Sie, die unerlaubten Kopien, werden ganz einfach beim Verkauf der Kopiergeräte mit eingerechnet, und eine Kopiergebühr wird aufgeschlagen auf die Kauf- oder Miet- oder Leasing-Summe, die den Urhebern, den Schöpfern der Kopie-Inhalte zugutekommt. Entsprechend der Abgabe, die man seit Jahren bei uns bezahlt, wenn man ein Tonbandgerät kauft. Und die sündigen, unerlaubten Kopien, die man künftig darauf ziehen wird, gleich im Voraus und pauschal sozusagen sühnt. Wie Weiland zur Zeit Martin Luthers der berechenbare Ablass der katholischen Kirche, welcher die Sünden damit auch berechenbar und sühnbar machte. Doch die Welt der Kopien beeinflusst die Welt viel mehr: Der Kunstmarkt lebte immer schon mit der Überraschung, daß neben echten Rembrandts und anderen Meistern Kopien der großen Werke auftauchten, die an Meisterschaft, also an Übereinstimmung mit dem Original, nichts zu wünschen übrig ließen. Heute werden solche Kopien als „echte Kopien" serienweise in Kaufhäusern angeboten mit den gleichen kleinen Farbhuckeln und Klecksern oder Rissen, wie sie die unerschwinglichen Originale zeigen. Keine Kopie einfach mehr, sondern eben „echte Kopien". Oder die Kopien von Idolen, von Stars und deren Aussehen. Lebt der Imitator von „Heino" nicht bestens damit, seine Identität gegen die des Schlagersängers getauscht zu haben? Zeitweilig war auch hier die Kopie bekannter als das Original selbst. Krimis von heute setzen die Kopie als zentrale Rolle ein: Da schwirrt eine Kopie mit den Daten von Aids-Patienten bei Verbrechern herum, die damit erpressen, oder da kopiert ein kleiner Gauner illegal den Bauplan eines neuen Kampfpanzers, den ein großer Gauner legal bauen und verkaufen lassen will. Die unerlaubte Kopie ist zunehmend der Stein, der den Krimi ins Rollen bringt. Am allerspannendsten aber bleibt doch die älteste Kopierweise, die es gibt: Die Kopie des Menschen durch den Menschen in seinem Verhalten: Und das haben wir immer schon getan. Die Welt der Kopien ist unsere Welt. Und wenn da einer sagt: Der ist ja ein Original, dieser Typ da - ganz sicher hat dieses Original bald seine Kopie. Denn das Originell-sein-wollen ist schon eine Kopie.
19. März 1991