Hunde - Kommunikation

„Es ist ein wirklich großer Kummer: Die Welt wird lauter und doch stummer" beginnt Eugen Roth, gleichermaßen uralter wie weiser und scheinbarer „Leichtschreiber" unter den vergangenen Poeten sein Gedicht „Reisegenossen". Das war 1954. Die Reisegenossen im Zugabteil benutzten offenbar damals schon die Zeitung als Schutzwall, das Buch als mahnenden Hinweis auf distanzierende Bildung, das Stricken als Meditationshandlung. Alles brachte damals das Schweigen im Zugabteil. Heutzutage ist alles anders: Finanz-Magazine statt Zeitungen, unsere Autistenklammer, der Walkman, anstelle eines Buches und der lautlose tragbare Computer als mobiles Büro. Vom heimkehrenden Manager im Nadelstreifen bis zur Großmutter, die zum Babysitting fährt - alles ist beschäftigt. Und wenn jemand strickt - dann lernt er nebenher Vokabeln. Superlearning. Sie ist auf den Hund gekommen - die Kommunikation im Zugabteil von heute. Wenn man keinen Hund hat. Kaum betritt der Mensch das Zugabteil von heute mit Hund: Die Szene lockert sich. Die Finanz-Magazine sinken nieder, die Autistenklammer wird vorübergehend in den Nacken geschoben, der bisherige Computertext sicherheitshalber zwischengespeichert. Allenthalben. Aufmerken, Aufmerksamkeit, erstes Zulächeln (gilt dem Hund), erste,,Zzzz"-Urlaute (als Zuwendungssymbol), vielleicht gar eine ausgestreckte Hand mit Streicheleinheits-Absicht. Der Hund machts möglich. Menschen ohne Unterhaltung - das wissen wir ja als Grund für das Eingehen des Neandertaler-Stammes gehen ein. Nicht umsonst hängt Unterhaltung und Unterhalt zusammen. Todernst. Friederike ist kein Hund, sondern 9 Jahre alt und Tochter. Und eben ein solches Wesen - ein Kind im Zugabteil - übertrifft sämtliche Erfolge sämtlicher Hunde-Kommunikationen im Zug. Es ging zwischen Uelzen und Celle los beim Blick des Schaffners auf die Fahrkarte: „Was so eine lange Reise für so ein kleines Mädchen?" Abgesehen von der tiefen Beleidigung, die er damit in der Psyche einer 9jährigen im Jahre 1990 auslöst, löste er Kommunikation zwischen den Mitreisenden bis Hannover aus: über zumutbare Reisestrecken in diesem Alter, über Schulaltersstufen, Cassetten-Hörspieltitel und Geschwistervorkommen. Banale Themen. Alles Vorbereitung für das Wesentliche. Das Wesentliche kommt immer erst nach dem Banalen, das dem Einstieg dient, dem warming up. Die Engländer reden deshalb über das Wetter so lange, weil sie sich während des Redens in Ruhe wittern. Hannover bis Kassel mussten alle diese Erststufen der Unterhaltung, die der ersten Witterung dienen, nochmals durchstanden werden, weil Zug, Abteil und Mitreisende wechselten. Aber dann schlug das Vorhandensein vom Kinde alle Rekorde. Nach dem Geschwistervorkommen (ältere Dame) fragte sich eine andere (jüngere) an die fehlende Mutter heran. „Hat Deine Mutter keine Sorge, Dich so allein mit dem Vater...?" Abgesehen von der tiefen Beleidigung, die dadurch in der Seele eines 45jährigen Vaters ausgelöst wird, hatte die Dame ihre Information: „Nö!" antwortete Friederike uninteressiert. Ein männlicher Mitreisender (etwa 55) erzählte wehmütig von den Reisen, die er mit seiner Familie gemacht habe - vor der Trennung von seiner Frau. - Das war das Stichwort: Es folgte eine Runde über Scheidungszahlen, Trennungstragik und Trennungsgelüste heutiger Eltern, an der Friederike und ich uns nicht beteiligten. Ich hatte enorm zu tun, die verschiedenen Seitenblicke auf mich zu ignorieren. Doch die Kommunikation entwickelte sich in der Gruppe, wurde dicht, unausweichlich. „Seid Ihr noch alle zusammen in Eurer Familie?" Die Frage galt unverblümt und direkt Friederike und stammte von einer der drei Damen (der ohne Platzkarte, wie Friederike vorher festgestellt hatte). Friederike verstand nicht, „Was?" fragte sie zurück und ich schob mein „Wie bitte - heißt das!" ebenso unnötig wie mahnend nach, weil ich wachsenden Unmut fühlte, über die Neugier der platzkartenlosen Dame. Nicht über Friederike. „Ob Deine Eltern auch geschieden sind,“ übersetzte die zweite Dame und der geschiedene Herr nickte bereits ahnungsvoll und bekümmert mit dem Kopf. Friederike sagte ein kurzes „Nein" und versank anschließend in einem Buch, das sie von ihrer Mama, meiner Frau, auf dem Bahnsteig als Zugabe zum Kaugummi erhalten hatte. Sie muss die sich anschließend ausbreitende Enttäuschung im Abteil dennoch gespürt haben. Denn nach einer Minute völliger Stille nahm sie das Thema noch einmal auf. „Wir lieben uns noch," schob sie unaufgefordert nach. „Außerdem ist jeder von uns zwei Tage in der Woche mit der Tierversorgung eingeteilt. Da kann keiner fehlen." Das war kurz vor Frankfurt. Zwei von meinen Gesprächspartnern blieben dann stumm und außerdem bis Baden-Baden. Ich hätte natürlich erklären können, daß ich meine Kinder schon traditionsgemäß auf Dienstreisen einmal jährlich einlade - aber ich ließ es. Ich hätte kommunizieren müssen. Und das wollte ich nicht. Weder über Wetter geschweige über meine Ehe bzw. Scheidung. Gut, daß Hunde und Kinder nur selten mitreisen. Es lebe die Kommunikation, die vor die Hunde geht.

18. September 1990