Verkehrte Frühlingswelt

Heute rief ich Frau Lochmatter an und schilderte ihr die Frühlingsherrlichkeiten und Frühlingsfraulichkeiten, wie sie sich mir vor meiner Arbeitszimmertür darbieten. Frau Lochmatter ist die von Josef, dem Sekretärin Schweizer Freund und Medizin-Chef in einem Walliser Krankenhaus. „Wie geht, es denn bei Ihnen?" fragte Frau Lochmatter, eine immerzu freundlich verhalten fröhliche Person. Ich schilderte ihr über die 1200 Kilometer hinweg die Uelzener Landschaft, besonders die vor meinem Studierzimmerfenster: Sengende Sonne, zarte Cumulus-Wolken, wippende kurze Röcke um endlich wieder sichtbare Frauenbeine. Dann fragte ich, irgendwie irritiert - wie es denn im schönen Wallis zuginge. Nun muss man wissen, daß ich diese Frage ungern stelle. Denn sooft ich diese Frage stelle, antworten die da unten auf der Landkarte mit: Wieso? Schön ist's - wie immer...", und ich habe das dumme Gefühl, mich entschuldigen zu müssen, überhaupt die Frage gestellt zu haben. Die sind einfach empfindlich die Walliser - mit ihrem Wetter. Auch umgekehrt: Als ich bei einer ersten Dienstreise in das südschweizerische Spital aus dem Zug stieg und überwältigt diese südländische Sonne und das Azurblau um die Berggipfel ringsumher zu verarbeiten versuchte - da wurde ich von Josef mit tiefbedrückter Miene empfangen, „weil das Wetter so schlecht sei". Endlich begriff ich, daß Josef wegen zweier kleiner, ganz entzückender Wölkchen am Ende des Tals so deprimiert und besorgt war. Vielleicht ist daher verständlich, daß ich mit einer winzigen, moralisch gerade noch zu vertretenen Portion Schadenfreude der Lochmatterschen am Telefon unsere jetzige Herrlichkeit schilderte. Im nächsten Augenblick jedoch reute mich dies. Denn ich hörte die Stimme von Frau Lochmatter. „Ach," hörte ich sie im Oberwallis sagen. Und dann zunächst nichts. Dann nochmal: „Ach - bei uns ist es schlimm." Sie brauchte gar nicht zu sagen, daß es im Wallis miserabel zugeht, daß sie alle in gefährliche Nähe depressiver Abgründe geschleudert worden seien. Die Stimme Frau Lochmatters drückte alles durch ihr Timbre aus. Wie reagierte doch der Josef schon bei zwei kleinen Wölkchen damals? Wie muss es dort jetzt zugehen, wenn schon Frau Lochmatters garantierte verhalten-freundliche Fröhlichkeit nur noch verhalten-freundlich ist?! Es regne gar. Seit längerer Zeit. Sie hätte auch sagen können, ein deutscher Starfighter habe die Spitze vom Matterhorn abgejagt.  Mich überschwemmte Mitgefühl und ich tröstete. Allerdings - tröstete ich nur matt. Beziehungsweise die Lochmatter. Denn so neurotisch bin ich doch nicht, daß ich nicht weiter strahlen könnte über die Strahlen unseres Frühlings.

18. Mai 1993