Von einem Schlagwort, das erschlägt
„Kreativität? fragte Doris nach. Dann sagte sie „O Gott!" Und Andreas fügte hinzu: „Nein - bitte nicht schon wie- der!“ Dabei hatte ich, der bei Doris und Andreas zum Abendessen eingeladen war, nur ein kleines Credo abgeben wollen, indem ich sagte, daß Doris die Krabbensuppe gut gelungen sei, von der sie erzählte, daß sie sie aus frischen Büsumer Krabben komponiert habe. Kreativität sei eben selbst in einer Krabbensuppe merkbar. Hatte ich gesagt. Als kleines Credo. Sozusagen anstelle eines Tischgebets. „Ich kann das Wort nicht mehr hören," schimpfte Doris, und Andreas nickte dazu. „Es ist wie ein Joker - überall, wo jemand kreativ werden will, redet er vom Kreativsein. Und ist es nicht. Er redet darüber..." Ich dachte daran, daß Doris eine scharfe Zunge und keinen Benimm habe. Aber da ich seit Tagen nicht mehr in Ruhe gespeist hatte, schon gar nicht Krabbensuppe, löffelte ich erst Doris herrliche Krabbensuppe aus. Danach fiel mir Doris Buch ein. Wenn Du Kreativität so über hast - warum hast Du kürzlich das Buch mit den 80 Spielen zur Steigerung der Kreativität geschrieben?" fragte ich vor meiner leeren Suppentasse. „Um einen Gegenpol zu dem Buch von Gerhard zu setzen. In dem hat er 80 Übungen zur Kreativierung des Gehirns angeboten. 40 für die linke und 40 für die rechte Gehirnhälfte." „Außerdem," ergänzte Andreas seine Frau, „außerdem widerspricht so eine Spaltung des Gehirns in verschiedene Hälften dem integrativen Gedanken wirklicher Kreativität..." Doris ereiferte sich: Ihre 80 kreativen Spiele zur Kreativierung dienten der Gesamtpersönlichkeit. Besonders das Kapitel in ihrem Buch „Naturgeräusche kreativ hören" könnten das Tagesbewusstsein kreativieren und ihr Verleger habe be-reits eine Auskoppelung speziell dieses Kapitels zum Abdruck in einer Kundenzeitschrift angeregt. So erfolgreich sei diese Kreativierung. Ich riskierte meinen Ruf als Bildungsbürger und Fachmann, indem ich Doris noch fragte, ob draußen - vielleicht noch ein kleiner Schlag Krabbensuppe sei. Zu mir war Doris nett: Sie ging und ließ mich mit Andreas samt Vetter allein. „Kannst du dir nicht vorstellen, daß man", Andreas räusperte sich, „daß man, daß wir - entsprechend dem Kapitel von Doris über Naturgeräusche mit Beispielkassette nicht eine Kassettenreihe mit bestimmter Musik produzieren? Kreativierende Musik? Musik, die man im Auto 'reinschieben kann, im Büro, zuhause, im Krankenhaus? Überall braucht es doch Kreativität!" Meine Bronchitis meldet sich immer in ähnlichen Momenten und jetzt war es wieder soweit. Als ich mit meinem Hustenanfall fertig war, beendete Andreas seine Werbung mit dem Ausruf: „Da liegt doch ein ungeheuer kreatives Potential, in so was!" Ich sagte Andreas, daß es bereits mehrere solcher Reihen gebe. Solche für einfache Kreativität und auch solche für fortgeschrittene Kreative. Doris kam mit einem kleinen Klacks Krabbensuppe zurück aus der Küche und fragte „Na?" Dabei sah sie Andreas an. Dann mich. „Er sagt, solche Reihen gebe es schon," murmelte Andreas und Doris sagte „Schade! Nach einer Pause schlug sie vor, eine solche Reihe trotzdem zu machen und „mit anderem Zugriff Vielleicht zu produzieren. Kreativität durch Musik für noch nicht Erkrankte und welche für Patienten im Krankenhaus? In einer gemeinsamen Reihe? Getrennt gekennzeichnet durch Farben? Mir wurde plötzlich schlecht und ich schob die Krabbensuppe weg. Eine Stunde später war ich zuhause und suchte mein Fachlexikon. Ich hatte das Bedürfnis, unter dem Stichwort „Kreativität“ nachzulesen, was diese sei, was diese wolle und wo diese zu finden sei. Ich hatte allerlei davon gewusst - vor der Krabbensuppe von Doris. Die sie übrigens aus der Büchse hatte, wie ich auf dem Gang zur Toilette feststellte, der durch die Küche führte. Nicht sehr kreativ, die Büchse. Aber das hatte sie mir auch zum Schluss vorgeworfen bei der Garderobe. Daß ich nicht sehr kreativ sei. Ihre Idee mit der Kassettenreihe für alle sei doch sehr kreativ gewesen....
18. Februar 1992