Das Baby im „Geisterhaus"

Zwei Bilderwelten faszinierten mich heute in Uelzen: Die eine war die üppig-sensible Bilderwelt der Verfilmung von Isabelle Allendes „Geisterhaus" in Renate Böhmes Parktheater ganz vorne auf der Leinwand. Die andere Bilderwelt war die Mutter-Säugling-Idylle in der zweiten Reihe vor mir. Der Film ist wunderschön gewesen. Und die junge Mutter samt Säugling an der Brust vor uns ist zweifelsfrei die noch viel schönere Realität. Nur zusammen sind die beiden Welten in dieser Kinowelt des Geisterhauses ein Spuk. Finde ich Obwohl es mich das nichts angeht. Denn allen Müttern und Vätern dieser Welt steht es nicht nur frei, ihre Säuglinge dahin mit zu schleppen, wo sie - die Eltern - sich gerade aufhalten. Nein, ich gratuliere den Nachkommen, wenn Sie Eltern haben, die sie möglichst dauerhaft und möglichst direkt in ihrer Nähe belassen und nicht - wie bei unseren Urgroßeltern noch oder bei vielen Engländern immer noch – von „nurseries", von Tanten, großen Schwestern, Erzieherinnen erziehen lassen. Zusammensein mit den Eltern ist für den Säugling der beste Geist für seine Seele. Solch Elternhaus mit diesem Geist ein gutes Geisterhaus. Aber jedes Zusammensein? Mitten im abendlicher Kino-Umgebung des ,,Geisterhauses"? Nach dem, was ich in Sachen Säuglingswelt lernte, war „das Geisterhaus" in Uelzen für den süßen Säugling zwei Reihen vor uns eine kleine Hölle. Erinnern wir uns einmal: Wir stehen am Bahnsteig im Abschiedsgespräch mit den Lieben. Der ICE, der hinter unserem Rücken durchzischt, lässt uns zusammenfahren- und erst nach kurzer Pause weiterfahren - im Verabschieden. Was uns da zusammenzucken lässt, ist der Rest jenes sogenannten „Moro-Reflexes" (benannt nach seinem ärztlichen Entdecker), mit dem der Säugling immer zusammenzuckt - mehr oder weniger merklich an dem ruckartigen Zusammenfalten von Beinen und Armen. Das tut er immer bei fremden, lauten Lauten. Das ganze Leben zucken, fahren wir zusammen, wenn unsehbar und uneinsichtig laute, plötzliche Klangwelt über uns hereinbricht. Unser Säugling da vorne im Uelzener Geisterhaus hört die Gewehrschüsse mit ihrem Halleffekt aus den Lautsprechern mit. Es hört die sich beschleunigen- den Schritte, der gejagten Frau, die Angst- und Panikgeräusche, die Galopplaute des Pferdes unter dem Mann, der anschließend die Vergewaltigung vollzieht! Und es hört die Schreie bei den Folterszenen im geheimpolizeilichen Sado-Kerker mit, das Kreischen von Bremsen, lauter als draußen im nächtlichen Uelzen nachher. Kommandostimmen, erneute krachende Schüsse. Das Kind hört den unterdrückten Schreckensschrei seiner Mutter, die ihn gerade stillt, als der abgetrennte Kopf der Mutter durch die südliche Film-Luft wirbel.t Alles hört der Winzling. ,,Aber er schläft ja doch immer so fest... Das tut er nicht. Er speichert sämtliche Geräusche und blendet sie nur weg, was viele, viele Energien kostet, die eigentlich im Schlaf gewonnen und nicht verloren werden sollen. Außerdem: „Stillen hängt nicht nur sprachlich mit Stille zusammen...", sagte eine alte Kinderärztin kürzlich im Seminar zu jungen Studentinnen, von denen eine gerade stillte. Dann doch lieber mitnehmen auf die abendliche Demo oder in die Kneipe um die Ecke. Obwohl ich lernte, daß auch solche „Nomadensäuglinge" guten Umsatz bei therapeutischen Praxen bedeuten. Allerdings erst in einigen Jahren. Denn die Säuglinge der wirklichen Nomaden hatten nicht die akustische Umweltverschmutzung zu erleiden, wie unsere. Vielleicht ist solch Tag wie der Bußtag morgen mindestens ein akustischer Erholungstag. Vielleicht sogar mehr.

17. November 1993