Von Alles- und Besserwissern

Heute ärgerte ich mich über Alexander, den sonst so toleranten Lehrerfreund. Normalerweise ist er ein guter Zuhörer, normalerweise offen für Neues, normalerweise abenteuerlustig. Seit er aber an seiner Doktorarbeit schreibt und regelmäßig zu seiner Doktormutter fährt da ist Alexander das Gegenteil von normal: Er stinkt vor Wissen. Genauer: Er stinkt vor Wissen darüber, was Wissenschaft ist. Noch im Frühjahr dieses Jahres konnte ich mit ihm beim Rasenmähen (wir sind ja fast Nachbarn) über den Satz jenes alten Weisen sprechen, in dem dieser aus all seinem ungeheuren Wissen die Schlussfolgerung zieht: ,,Ich weiß, daß ich nichts wei" (ja, ganz richtig - falls Sie Lateiner sind: „Scio nescio" heißt diese Schlusserkenntnis alles Kennens). Nicht so Alexander. Der gehört - seit er da hinfährt - nicht mehr zur Gruppe der weisen Wissenden. Alexander gehört jetzt zur Gruppe der Wissenschaftler. Wissenschaftler wissen nicht nur einfach Wissen. Sie wissen, was rechtes und seriöses Wissen ist - und sie wissen vor allem das Gegenteil: Was falsches und unseriöses Wissen ist. „Weißt Du," hatte Alexander beim Rasenmähen noch gemeint, mitten in der Bierpause, „das Spannende an der Wissenschaft ist ihre Vielfalt, diese vielen Verfahren und Sichtweisen..." hatte er geschwärmt. Damals war er noch Pluralist, ein Freund der Vielfalt, ein offener Mensch. Jetzt - jetzt gibt es für Alexander nur noch das Verfahren unter den vielen die es gibt. Welches das ist? Natürlich das, was Alexander anwendet, weil seine Doktormutter es entwickelte. Die anderen sind mindestens – „riskant bis falsch". Und unter den vielen Sichtweisen und Auswertungen von Wissen und Wissenssammlungen gibts auch nur eine wirklich richtige. Welche? Na, Sie wissen schon. Unter den Wissenschaftlern sind nicht diejenigen ungenießbar, die alles zu wissen glauben, sondern die, die alles besser wissen. Alexander säuft nunmehr mit jedem Bier auch weiteres Wissen über rechtes Wissen in sich hinein, und sein Durst ist kein profaner wie mein Durst, sondern Alexanders Durst heißt jetzt „Wissensdurst". Apropos Wissensdurst: Nicht nur mit Durst bringt die Erfahrungspsychologie Wissen zusammen, sondern auch mit Hunger. So als gebe es den Typus nicht, der glaubt, die Weisheit mit Löffeln gefressen zu haben. Mein Trost: „Glauben", also mithin nichts gänzlich Berechenbares, haben selbst die Alles-Besser-Wisser unter den Wissenschaftlern nötig. „Tante Erika ist die Schlimmste", meinte Alexander einmal im Rückblick auf ein Familientreffen, weil Tante Erika (Oberstudiendirektorin in Ruhe, Mathe und Physik) eben nicht nur alles, sondern alles besser wusste, was sich darin ausdrückte, daß sich Tante Erika immer noch korrigierend, ergänzend, relativierend; verifizierend äußerte - zu jedem und allem, was gesagt wurde. Selbst Alexanders vorsichtiger Hinweis damals, daß „apropos Physik, Tante Erika" - selbst ein Mann wie Carl Friedrich von Weizsäcker ganze Teile seines Wissens und seiner Wissenschaft für einen Irrtum erklärte, veranlasste sie nur zum überlegenen Lächeln....Das ist wissenschaftlich bewiesen" wehren die Tante Erikas sämtliche unbequemen Fragen ab. Oder ihr eigenes Unwissen, ihr Unwissen über Wissenschaft, Wissenschaftlich" ist ein Joker im Spiel mancher Leute mit dem Wissen von dieser Welt (und manchmal auch mit dem Wissen um Gott, von dem Tante Erika weiß, daß er sowieso kein Mann, aber auch keine Frau war, sondern nur der Urschlamm). Manche Wissenschaft schafft nur Wissen. Und mehr schafft sie nicht. Schade um Alexander. Derzeit ist er wie seine Tante. Überlegen - statt überlegend. Omnipotent statt bescheiden, Wissenschaftler statt Wissender. Woher ich das alles so wüsste, fragte mich Alexander nach all meinen konstruktiven Vorwürfen. Ja, woher nur? Ich weiß das eben, bzw. weiß ich, daß ich und Alexander nichts wissen Was sagt dieser arrogante Kerl daraufhin zu mir? Ich sei omnipotent, größenwahnsinnig mich auf eine Stufe mit dem Weisen der Antike zu stellen, der da sagte: Ich weiß, daß ich nichts weiß.

17. November 1992