Ruf doch mal an...-

Ferien sind die Zeit, in der die Haushüter daheim im Dorf den Anruf aus dem Feriendorf haben sollen („steht unser Haus noch?"). Ferien sind die Zeit, in der diejenigen mit Anrufen versorgt werden sollen, die sonst mit Korrespondenz versorgt werden müssen im Amt gebliebene Kollegen und Mitarbeiter. Und die wenigen, die wirklich beides sind. („Klappts mit der Urlaubsvertretung? Hier ist auch nur schlechtes Wetter.“ Man sollte nur von Missgünstigem im eigenen Urlaub berichten - im Amt Gebliebene sind grundsätzlich missgünstig gegenüber denen ohne Amt, ohne derzeitiges Amt...).Und Ferien sind die Zeit, in der sich der Mensch aus der Ferne dringend den nahen Menschen zuhause mitteilen möchte, um teilhaben zu lassen. Am Misslungenen („Die Sehnenscheiden-Entzündung aus dem Büro lässt immer noch nicht nach"). Und am Gelingenden („Dorothea ist beim Strandritt prima mitgekommen, es wurde gar nicht galoppiert"). Alles das setzt intakte Telefonzellen voraus - gelbe daheim, rote hier und dort. Auf jeden Fall öffentliche - denn wer zahlt die Wucherpreise schon an Tankstellen und Hotelrezeptionen. Das „Ruf doch mal an!" an heimischen Telefonzellen fehlt mir hier in der Fremde. Weil mir hier die ganze Zelle fehlt. Also fahren wir 3 km zum nächsten Ort, wo eine rote Kabine am Ortseingang wartet. Jedoch nur die Kabine - das Telefon ist herausgerissen. Ein herunterhängender Kabelrest lässt mich vergessen, was ich an sonstigem Verständnis für Aggressionsabfuhr-Kanäle bzw. für die, die sie nutzen, habe. Der Kabelrest lässt mich wünschen, daß die hier amtierenden Randalierer vom Dienst ruhig einen kleinen elektrischen Schlag mitnehmen können sollten. Ob solche Zusatzinstallation nicht schnell zu machen wäre - nach vorangegangener Zusatzerfindung? Wie gesagt - nur an solch kleinen Schlag denke ich, wie dem an Tante Mariannes Sofalampe, weswegen ich Tante Marianne selten besuche (obwohl ich vermute, daß sie immer solch Reparatur-Nöte äußert, um mich zu Besuch zu kriegen). Ich fahre weiter - 9 km dies- mal und habe Glück. Am Einkaufszentrum des Nachbarferiendorfes stehen gleich vier Kabinen. Und alle sind heil. Das sehe ich an den vier Menschen, die innerhalb der vier Kabinen telefonieren. Und den ca. jeweils 10 bis 12 Personen, die davor Schlange stehen, zusammen 50 Menschen auf vier Telefone. Ich rase weiter - Tante Marianne macht gegen 22 Uhr das Licht aus und schläft. Es ist 21.35 Uhr. Und ich weiß, daß ist schließlich unsere oft einzige Rettung beim Baby-Sitten. Außerdem hat sie keine Kinder, aber einen kleinen Bauernhof. Ich rase weiter - die langen und dunkler werdenden 15 Kilometer zur Kreisstadt - rase trotz des Gebots, nur schleichen zu sollen. Dort - am Bahnhof - ist es erstens 21.50 Uhr, zweitens heile Kabinen- und Zellenwelt: Zwei Zellen sind da, in einer wird telefoniert, vorbei - den steht kein Mensch! Ich stürze in die freie Kabine - die könnte ruhig kaputt sein, nebenan ist Reserve - aber sie ist frei und intakt. Ich höre es am sofort einsetzenden Besetztzeichen. Die Leitung ist überbelegt. Tante Mariannes und Kollegen und Haushüter gibt es in Überzahl. Die Grenze ist nicht überall offen! Es ist 22.00 genau und ich gebe auf, fahre zurück. Erst die 15 Kilometer zum Einkaufszentrum (immer noch Schlangen), dann die 9 km. Ich höre Chopin im Radio, aber innerlich Tante Mariannes Stimme morgen falls es klappen sollte -vorwurfsvoll fragen: „Ist was los? Ich machte mir solche Sorgen!" Da kommt mir der Gedanke, lieber mehr zu investieren, als Tante Mariannes Stimme jetzt weiter in Konkurrenz zu Chopin und morgen hören zum müssen. Ich gehe zur Rezeption eines der beiden Motels am Straßenrand und - habe Glück. Ich darf es benutzen, die Leitung ist nicht überbelegt und außerdem erst 22.10 Uhr, Ich werde mich entschuldigen. Hoffnungsvoll tönen die Knackgeräusche, mit der die Auslandsleitung sich auf Tante Marianne einstellt... Doch bei der tönt „Besetzt"! Vermutlich telefoniert sie besorgt-vorwurfsvoll mit Mama. Ob wir uns jedenfalls bei ihr gemeldet hätte (wehe wir hätten... Mama ist herzensgut. Wir rufen immer erst bei Tante Marianne an.) Ruf doch mal an... jaja. Schön, bald wieder zuhause zu sein. Wo alle Telefonkabinen intakt, ohne Schlangen und ganz unnötig sind, weil wir Tante Marianne zwei Mal wöchentlich sehen.

7. August 1990