Kasperle- und Krippenspiel
Es war unüberhörbar, das Gesumme und Gebrumme und die einzelnen Rufe aus der größeren Kinderschar auf einem gegenwärtigen Weihnachtsmarkt unserer Gegend. In der es schließlich vergleichsweise zu anderen Kulturgegenden - sehr viel Schafe, etliche Schnucken und auch wenige Hirten gibt. Friederike diagnostizierte wahrscheinlich deshalb auf die Entfernung hin: „Wahrscheinlich ein Krippenspiel". Und wühlte weiter in dem Klamottenhügel einer weihnachtsmännlich gekleideten Straßenhändlerin. Ich hingegen eilte los wie die Hirten gen Bethlehem in Richtung des Geschehens, das da geschah. Denn Krippenspiele waren früher und sind seither deshalb immer eine stille Sehnsucht, weil ich eben diese nie hatte stillen können: Immer andere, ältere Kinder spielten die hochheiligen Rollen. Und als ich langsam soweit war - da war leider die Zeit der Krippenspiele vorbei. Die „68er" hatten begonnen. Friederike hatte sich geirrt: Auf diesem Weihnachtsmarkt gab es auch kein Krippenspiel. Es war ein Kasperletheater, vor dem eine große Menge Kinder und eine kleinere von Erwachsenen stand und nun deutlich erkennbar die guten Figuren da oben anfeuerte und die Bösen auspfiff und ausbuhte. Das war ganz früher anders: Da übertrafen die Krippenspiele an Dramatik und Unterhaltungs- wert jeden Batman-Film für die Jungen und Sissy-Schinken für uns Mittelalter und Alte von heute. Denn vom 6. Jahrhundert nach Christi Geburt an über die Krippenspiele des 10. Jahrhunderts bis zum 14. Jahrhundert, wo sie dann „Mysterienspiele" hießen waren Krippenspiele der Renner der weihnachtlichen Unterhaltung: Die damaligen Spiele wurden von den Honoratioren einer Gemeinde gespielt! Und höchstens deren Kinder kamen für untere Engel- und Hirtenränge in Frage. Man stelle sich allein die Auswahldramatik in Uelzen des 13. Jahrhunderts vor: Wer spielt den Josef? Automatisch der Propst oder der herzogliche Vogt? Oder die Engel, wobei es einem Kommunalwahlkampf geähnelt haben dürfte, wer Seraphim oder Cherubim, wer Erz- oder gewöhnlicher Engel spielen solle? Oder die Frage (spannender als heutige Miss Bodenteich- Wettkämpfe): Wer ist diesmal die Maria unter den schönsten Weibern der Gesellschaft Uelzens? Wer übernimmt die Ausländerrollen die Hl. drei Könige? Die Hintergründe für die Auswahl damals dürften schon hochspannend gewesen sein. Mindestens so spannend wäre die Krippenspielbesetzung von heute: Propst Hube als Hirtenverkündiger? Bürgermeister Leifert und sein Stellvertreter in speziellen Engelsrängen? Der Kreiskirchenvorstand darüber oder darunter? Die Hirten kamen naheliegender Weise aus dem Kreistag und der Landrat samt OKD teilen sich die Ausländerrollen der drei Könige? Und erst die Maria. Ariane Henjes oder eine Vikarin? Oder alles ganz umgekehrt? Es könnte so spannend sein - wenn es nur noch Krippenspiele gäbe! Die damals arteten aus, weil die Spieler noch ihre lebendigen Haustiere durchsetzten: lebende Schafe, schreiende Esel inclusive realitätsnaher Geburtsvorgang müssen wahre „Realityshows" gewesen sein. Zum Schluss: Der Kindermord in Bethlehem wurde ebenso realitätsnah dargestellt wie die Geburt selbst samt echtem säugenden Bäuerchen unter anderem machenden menschlichen Christkind. Papst Innozenz III. verbot die Krippenspiele 1210. Ein Jammer, daß wir uns heute immer noch oder wieder daranhalten.
16. Dezember 1997