Schöne Aussichten
Onkel Herbert hat sich bereits unmittelbar nach seiner letztjährigen Ferienreise auf die diesjährige vorzubereiten begonnen. Die letztjährige war zu seiner Unzufriedenheit ausgefallen, weil er den Gämsen im Schweizer Jura nicht nah genug gekommen war. Die scheuen Tiere verschwanden in Höhen und Schluchten, woher sein Prismen-Fernglas sie nicht ausreichend zurückholte. Seitdem sparte Onkel Herbert auf ein Spektiv, ein ganz ordentliches: 30 x 75. M. Schon im Oktober konnte Onkel Herbert damit in der Ellerndorfer Heide üben, denn Tante Susanne und die erwachsenen Kinder hatten für den Rest zusammengelegt - anlässlich Onkel Herberts 60. Geburtstag. Eine gute Investition für den Ruhestand, hatte Tante Susanne befunden - froh darüber, daß ihr Mann auf nichts anderes scharf war als auf die Gämsen in der keuschen Natur. Aber Onkel Herbert sollte nicht nur mit Prismen-Fernglas und Spektiv auf die diesjährige Ferienreise eilen. Denn da er nun die Sorge um das Spektiv los war, sparte er zwischen seinem Geburtstag (im Oktober) und Weihnachten sicherheitshalber noch auf eine dieser neuen kleinen ultraleichten Video-Kameras. Sicherheitshalber deshalb, weil Onkel Herbert sich ganz richtig sagte, daß der Genuss, die Gämsen und andere seltenen Tiere nur so kurz durch das Spektiv zu sehen, ein schlechtes Output für so viel mühevolles und teures Input sei. Der Gedanke, dass selten Gesehene künftig auf Video zu bannen und sich nach gefährlichem Abstieg abends immer wieder neu gönnen zu können, beherrschte Onkel Herbert, kaum, daß er ihn hatte, und entsprechend ließ er überall verlauten, daß er für Weihnachten auf die besagte Video-Anlage spare. Tante Susanne verzichtete daraufhin auf den traditionellen Anteil am Weihnachtsgeld ihres Herbert und förderte das neue Projekt mit. Sie spitzte außer- dem noch ihre Schwägerin und die beiden Schwager an, indem sie ihres Herberts Weihnachtswunsch unauffällig häufiger erwähnte. Zudem winkte sie bei ihrer eigenen Schwester mit dem Zaunpfahl, so daß Weihnachten eine Summe zusammenkam, die Onkel Herbert auch noch die Anschaffung eines Adapters ermöglichte. Mittels dieses Zwischenstückes konnte das Spektiv an die Video-Kamera angeschlossen werden, und der Betrachtung wilder Gämse im Großformat mit Zoom stand nichts mehr im Wege. Außer der langen Wartezeit zwischen Weihnachten und der Sommerreise. Bis es endlich soweit war und Onkel Herbert Tante Susanne in der Berg-Pension ablieferte und sich selbst noch höher schleppte mitsamt seiner Ausrüstung war noch eine Spezialbrille hinzugekommen, die die besonders harten UV-Strahlen abwehren sollte. In diesen Ferien wurde es wahr. Alles, wofür Onkel Herbert seit letztem Jahr gelebt hatte, erfüllte sich! Triumphierend und schweißnass, glücklich und völlig abgekämpft kehrte er abends gegen 23 Uhr zurück, um sofort den Video-Recorder im einsamen Gästezimmer an den Fernseher der Pension anzuschließen und seine Gämsen Tante Susanne als erstem Menschen zu zeigen. Als erstem Menschen? Nein, Tante Susanne war die zweite, die die Gämsen erblickte, wie sie - wirklich toll aufgenommen - die Bergeinsamkeit und Onkel Herberts Leidenschaft krönten. Schließlich war es Onkel Herbert selbst, der um diese nächtliche Stunde am Fernseher zum ersten Mal in Ruhe das erblickte, was er seit Stunden schon gesehen hatte, aber doch nicht so gesehen hatte, wie es das menschliche Auge normal aufnimmt: Onkel Herberts Blick war von den Gämsen unnatürlich getrennt gewesen von seiner UV-Strahlen abwehrenden Spezialbrille, danach von seinem Prismen-Fernglas, dann von seiner Video-Kamera und schließlich dem adaptierten Spektiv. Jetzt sah er zum ersten Mal die Gämsen ohne Gläser vor dem Auge. Auf der Mattscheibe des Fernsehens.
16. Juli 1991