Vom Ochsen aus Eitzen II
„Josef, wir müssen fliehen!" meinte Friederike. Sie ließ ihr Rad fallen und verschwand im Kiefernholz neben der Straße mit jener Anmut, die nur 10jährige Menschen noch haben können, wenn sie auf der Flucht sind. Josef hingegen wirkte dagegen schon leicht hastiger, eckiger auf seiner Flucht vor dem Stier, der da den letzten Häusern in Eitzen Il direkt auf uns zutrabte, die wir den Oechtringer Forst gerade auf unserer Radtour verlassen hatten. Mit Josefs Art zu fliehen sind wir beim Thema, wie der einzelne Mensch sein Verhalten unter Overstreß verändert (bekanntlich zeigt er dann die unbekannten Seiten). Auch unsere beiden Frauen, sonst große Augenweiden für andere, wählten sich die kleine Weide vor besagtem Kieferngehölz, stürmten angesichts des sich rasch nähernden Riesentieres darüber hinunter gänzlichem Verlust ihrer sonstigen Grazilität, Fragilität, Sensibilität. Sie stürmten aber nicht kollektiv, sondern auf persönliche Weise - Hanni links über den kleinen Graben springend, Christine rechts unter dem verrosteten Weidendraht hindurchrobbend. Die Szene scheint profan, ja abgedroschen wie die Torte, die im Stummfilm immer und immer wieder in die Gesichter geworfen wird: Da trabt ein Stier auf der kleinen Verbindungsstraße zwischen zwei winzigen Dörfern fünf Menschen auf Rädern entgegen - und diese nehmen reiß aus. Die Geschichte ist aber nur scheinbar abgedroschen und in der Wirklichkeit ganz ungeheuer aufregend. Einmal, weil sie mir passiert ist, der ich Stiere, Ochsen, Bullen usw. eben bisher nur aus besagten abgedroschenen Film-Szenen è la Ludwig Thoma kenne, aber nicht Aug in Aug. Zum anderen, weil wir aus dieser Geschichte abermals lernen können - wie das menschliche Fluchtverhalten nicht nur ganz - individuell ist wie der Mensch selbst, sondern bei diesem auch noch vom Beruf geprägt: Josef - beispielsweise - ist Chefarzt einer Schweizer Klinik, und aus dieser Rolle musste er sich schließlich als erster in Sicherheit bringen - für den Fall, daß er uns möglichen Ochsen-Opfern als Arzt später Hilfestellungen geben müsste. Außerdem ist Josef Major der Schweizer Bundesarmee, und als solcher hat er als einziger von uns richtiges Fluchtverhalten üben können. Hanni, Josefs Frau ist erfolgreiche Mutter und studiert derzeit Musik und Psychologie. Entsprechend umsichtig, sorgsam flüchtete sie. Sie gestaltete sozusagen ihre Flucht. Indem sie nämlich noch versuchte, das von uns schließlich geliehene Rad an einen Baum zu lehnen. Christines Robbentechnik entspricht ebenfalls sowohl Wesen als auch (Lehrerinnen-)Beruf. Christine steuerte zudem mein Fluchtverhalten: denn sie fuhr mit mir auf dem Tandem, das ich lenkte und da dies Tandem ein holländisches und daher sehr schwerfällig ist, konnte ich nicht einfach abspringen, es sein lassen und meinem (Flucht-)Trieb folgen. Ich klemmte sozusagen zwischen den beiden Radteilen des Tandems, von denen Christine ihren Teil verlassen hatte. Dieser mein Zustand mitten im Sinnbild einer christlichen Ehe - jeder trage des anderen Last bzw. schleppe des anderen (Fahrrad-)Rest - ließ mich als letzter die Straße verlassen, als der Stier auf uns mit jener unausweichlichen Unvermeidlichkeit zu rollte, wie sie nur solche Fleischberge auf vier Beinen und Straßenwalzen tun. Die Geschichte endet glücklich. Wir haben ausgeharrt - jeder hinter seinem Kiefernstamm. Bis der Stier weg war. Dann trafen wir uns auf der Straße wieder, lachend das wiedergeschenkte Leben genießend. Mit triumphalen Gefühlen des Gesiegthabens und der tiefen Dankbarkeit, davongekommen zu sein, fuhren wir nach Hause an von der Wroges und allen anderen Gehöften vorbei, in Eitzen, in Hanstedt, in Allenbostel - nur kein Schwein, geschweige ein Mensch stand am Straßenrand und applaudierte...
16. Juni 1992