Bruder Josef
Der Benediktiner stellte sich vor mit „Bruder Josef" und sprach die Touristen an, daß sie vergaßen, Touristen zu sein. „Meine lieben Gäste" sagte er und das spricht an, vorausgesetzt, daß Herzlichkeit auch herzlich ist. Ob seine Gäste Bruder Josef nun in großen Gruppen als ganze Busladung in den Reisemonaten umstanden oder als einzelnes Pärchen er freute sich, ihnen die Kirche, besonders deren Deckengemälde zu zeigen, die ebenso „sein" waren wie die Gäste. In der Vorweihnachtszeit kamen die wenigsten in seine Bet- und Bilder-Kirche, weil das Weihnachtsgeld die meisten in ihre Kauf-Kirchen trieb. Christine hat ihre Bildung (über Hallenschiffe, Seitenschiffe, Haupt- und Nebenaltäre, Haupt- und Nebenheilige und ganz besonders über die Deckengemälde) auch von Bruder Josef. Das war vor über 30 Jahren auf einer Klassenreise nach Wien. Christine erinnerte auch, daß sie und andere einen Krampf in den jugendlichen Hälsen vom Dauerblick nach oben hatten - nur Bruder Josef nicht, der einen durchtrainierten Blick gen Himmel und zu seinen Bildern hatte. Jetzt - über 30 Jahre später - las Christine das neue Schild mit der Anpreisung des alten Klosters an der Autobahn in Oberösterreich. Ob die Kirche offen...? Und er wohl noch lebte? Wir fuhren ab- und den Erinnerungsweg hinauf. „Bruder Josef?" fragte die Dame zwischen den Postkartenständern im Turmeingang und lächelte. Aber ja - gibt es unseren „hochwürdigen Herrn". Sie wies den Weg und dann standen wir vor ihm im Besuchszimmer. Während Kloster und Türme von Christines Erinnerungsvergleich geschrumpft waren, war Bruder Josef wirklich geschrumpft. Sein Körper war derart gekrümmt von der Bechterew-Krankheit, sein Rücken durch die Kyphose ein solcher Rundrücken geworden, daß Bruder Josefs Gesicht nie mehr zu sehen war - es sei denn, man würde sich auf den Boden unter ihn legen. Oder er auf die Seite...Bruder Josef bestand darauf, uns seine Kirche nochmals zu zeigen. „Sie sind durch die Restaurierung noch viel strahlender, unsere Decken-Farben, besonders Christi Geburt..." sagte Bruder Josef und schlurfte vorweg - mit dem Kopf einen knappen Meter über dem Boden. Die Deckenbilder zeigte er, indem er mit seinem umgedrehten Krückstock präzise an den entsprechenden Orten darauf hinwies. „Hier - oberhalb des Stütz-Pfeilers für die Orgel - da sehen wir das heilige Kind in der Felshöhle...dort hingegen," Die Krückstockspitze wanderte zielgenau in die entgegengesetzte Richtung „dort haben wir unseren Herrn in einer Herbergskammer bürgerlichen Stils..." Ich lernte, daß die Restaurierung vor zwei Jahren war und Bruder Josefs Rundrücken seit zwanzig. Noch mehr lernte ich jedoch den Unterschied zwischen äußerer Sicht und innerer Sicht der Dinge. Am Beispiel von Bruder Josefs Lieblingsbildern von der Hl. Nacht. Nein, natürlich von „seiner" HI. Nacht.
15. Dezember 1998